„Jeder Behandlungsschritt kann für das kommende Leben wichtig sein“

Übung macht den Meister: Mindestmengen-Vorgaben sind ein zentraler Baustein zur Qualitätssicherung in der Versorgung von Patientinnen und Patienten. Foto: pixabay/sasint

Wenn ein Krankenhaus vor Ort teilweise oder sogar ganz schließen muss, weil es bestimmte Qualitätskriterien nicht einhalten kann, trifft das bei den Menschen vor Ort oft auf Unverständnis. Warum Mindestmengen und die Einhaltung von Qualitätsvorgaben eine wichtige Rolle für die Behandlung von Patientinnen und Patienten spielt, erklärt Marita Moskwyn, Leiterin des Bereichs Stationäre Versorgung der AOK Nordost, im Interview.

Frau Moskwyn, das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen, kurz IQTIG, hat 2019 bundesweit 60 Kliniken eine mangelnde Qualität attestiert, etwa bei Brustkrebseingriffen, in der Geburtshilfe und bei gynäkologischen Operationen. Muss ich als Patientin Angst haben, wenn ich in eine dieser Kliniken komme?

In Deutschland müssen Sie grundsätzlich keine Angst haben, wenn Sie in eine Klinik kommen. Aber Patientinnen und Patienten müssen sich schon im Klaren darüber sein, dass es Unterschiede zwischen den Kliniken bei der Erfüllung und Umsetzung von Qualitätsparametern gibt. Ein Stück weit hängt das mit der Größe der Klinik, den dort behandelten Fällen und dem vorhandenen Personal zusammen. Beim Personal spielt auch die Qualifikation der einzelnen Personen eine Rolle. Kleine Kliniken können zudem häufig nicht rund um die Uhr ausreichend Fachspezialisten vorhalten. Hier befürworten wir auch ganz klar eine gewisse Zentralisierung, weil es der Qualität dient und den Versicherten hilft. Wir informieren unsere Versicherten in unserem Gesundheitsnavigator umfassend darüber, welche Qualitätsergebnisse Kliniken bei bestimmten Operationen erzielen. Sie sollen die Wahl haben, um sich für gute Qualität entscheiden zu können.

Warum ist Qualität für die AOK Nordost als Krankenkasse so ein wichtiges Thema?

Marita Moskwyn ist Leiterin des Bereichs Stationäre Versorgung bei der AOK Nordost

Weil konsequent eingehaltene Qualitätskriterien die Behandlungsqualität signifikant verbessern können. Wir können hier für die Lebensqualität unserer Versicherten ganz viel erreichen. Jeder einzelne Behandlungsschritt kann für das ganze kommende Leben wichtig sein, denn jede Behandlung, die nicht gut gelaufen ist, ist eine Weichenstellung für das weitere Leben. Letzten Endes haben wir als Kasse durchaus auch im Blick, dass wir Versicherte gesund erhalten möchten – auch was die Versorgungskosten angeht.

Was kann die AOK Nordost konkret tun, um für eine möglichst hohe Qualität der Versorgung zu sorgen?

Der Gemeinsame Bundesausschuss, der G-BA, hat Klarheit in den Richtlinien geschaffen, sodass die Kriterien schon mal geeint sind. Dort arbeiten Kassen mit Krankenhäusern und ärztlicher Expertise zusammen, um für uns einen Leitfaden zu erstellen. Zudem sind wir auf der Landesebene sehr aktiv und arbeiten intensiv in Gremien mit, um die sektorenübergreifende Qualitätssicherung voranzubringen. Verschiedene Experten schauen sich hier die Daten der Krankenhäuser ganz genau an. Dort wird festgestellt, was die Ursachen für die qualitativen Probleme sind und vor allem: Wie kann man daran arbeiten, Verbesserungen zu erreichen? Unser erster Weg ist immer, im Dialog mit den Anbietern daran zu arbeiten, wie etwas verbessert werden kann.

Im vergangenen Jahr hat eine Studie nachgewiesen, dass Frühchen, also Babys mit einem Geburtsgewicht von unter 1250 Gramm, eine deutlich höhere Überlebenschance haben, wenn eine Klinik eine Mindestmenge von 50 bis 60 Fällen pro Jahr erfüllt. Wie wichtig sind Mindestmengen als Instrument der Qualitätssicherung?

Mindestmengen spielen in der Geburtshilfe eine wichtige Rolle. Es gibt Studien, die ganz klar belegen, dass die Anzahl von Eingriffen für viele komplexe Behandlungen ein ausschlaggebender Qualitätsfaktor ist. Ein Arzt oder eine Ärztin, die einen Eingriff häufig macht, ist mit langjähriger Erfahrung einfach besser darin, mit Komplikationen umzugehen, als jemand, der das nicht so oft macht. Das gilt für das gesamte Team und die ganze pflegerische Betreuung nach einem operativen Eingriff. Wenn Kliniken nur 12 oder 13 Frühchen pro Jahr versorgen, heißt das im Umkehrschluss, dass knapp einmal im Monat so ein Fall auftritt. Im Bereich der Frühchen gibt es wenige Kliniken, die diese Babys wirklich auch versorgen dürfen. Schon heute ist es so, dass Perinatalzentren, die eine bestimmte Fallzahl unterschreiten, die Behandlung nicht mehr anbieten dürfen. Damit unsere Versicherten gar nicht in die falschen Hände geraten.

Die Vorgabe für die Behandlung dieser kleinsten Patienten ist erst kürzlich vom G-BA noch einmal erhöht worden: Ab 2024 gilt eine Mindestmenge von 25 für Level 1-Perinatalzentren – zwei von vier Zentren im Land Brandenburg unterschreiten diese. Eines dieser Zentren arbeitet bereits heute mit einer Ausnahmeregelung des Landes, weil es auch die derzeit geltende Mindestmenge von 14 nicht erreicht. Wie stehen Sie dazu?

Letzten Endes übernimmt das Land damit die Verantwortung dafür, dass dort eben mit nicht so guter Qualität versorgt wird. Das kann man mal für eine Übergangszeit machen, wenn eine Perspektive da ist, dass Strukturen verändert werden und die Qualität in kurzer Zeit wiederhergestellt wird. Das ist aber definitiv keine dauerhafte Lösung. Deshalb hat die Bundesregierung sich ganz klar dazu positioniert: Ausnahmeregelungen sollen in Zukunft nicht mehr in Betracht kommen. Eine entsprechende Gesetzesänderung soll im Laufe des Sommers verabschiedet werden. Das begrüßen wir ausdrücklich, denn wenn Landesregierungen solche Ausnahmen erteilen, spielen oft politische Faktoren eine Rolle, die mit Versorgungsqualität nicht so viel zu tun haben.

„Qualitätsvorgaben können Leben retten“

Beim AOK Forum live digital diskutierten Vertreterinnen aus dem Gesundheitswesen über Mindestmengen und die Zentralisierung von Behandlungsexpertisen.

Welche politischen Faktoren meinen Sie?

Das hat viel mit dem Lebensgefühl vor Ort zu tun. Wenn vor Ort bestimmte Stationen oder ganze Krankenhäuser dichtgemacht werden oder in ambulante Strukturen überführt werden sollen, dann könnten die Menschen auf die Straße gehen und dagegen protestieren. Davor hat die Landesregierung natürlich Angst, die Akteure fürchten den Verlust der Wahlkreise. Und natürlich besteht auch bei den Menschen die Angst, dass ihre komplette Region abgehängt wird. Das spielt sicher auch eine Rolle. Aber besonders der Umbau von Krankenhäusern gilt vielen Politikern als ein Thema, mit dem man sich Ärger einfangen kann – weil viele Bürger gar nicht richtig verstehen, warum sie von einer Zentralisierung profitieren. Hier wäre mehr Dialog und Erklären gefragt.

Die AOK Nordost als Dreiländerkasse trifft der Unterschied zwischen der Versorgung in ländlichen Regionen einerseits und im städtischen Ballungsraum andererseits im besonderen Maße. Wie kann die Versorgungsqualität sowohl auf dem Land als auch in der Stadt zukünftig gesichert werden?

Dafür müssen die Strukturen angepasst werden. Wir können uns nicht in jedem kleinen Dorf fachärztliche Versorgung leisten, weil wir dafür gar nicht die Ressourcen hätten – das fängt bereits beim Personal an. In meinem Idealbild für die Zukunft stelle ich mir eine Rettungsleitstelle im erweiterten Sinne vor. Dort kann man anrufen, egal, was für ein Problem man hat. Man wird medizinisch beraten und bekommt eine Auskunft, wo man hingehen kann. Wir müssen uns trauen, mehr Steuerung einzubauen und den Patienten etwas anzubieten. Aber so ein verpflichtendes Strukturelement müsste dann überall zur Verfügung stehen. Diese Idee würden wir in unserer Region gerne umsetzen. Ein zweiter Punkt ist eine sehr viel stärkere Vernetzung der verschiedenen Sektoren. Die Arbeit der niedergelassenen Ärzte, der Krankenhausambulanzen und der stationären Versorgung muss engmaschiger vernetzt werden. Hier würde natürlich auch sehr viel helfen, wenn die Daten vieler Patienten mit Hilfe der elektronischen Patientenakte besser verfügbar wären. Wir müssen dahin kommen, dass dem Patienten seine Patientenakte zu Verfügung steht, sodass er, unabhängig davon in welcher Versorgung er letztlich ankommt, als ganzer Patient wahrgenommen wird. Ich glaube gerade an diesem Punkt geht noch eine ganze Menge.

Wir müssen regionale Verbünde organisieren und bestehende Strukturen anpassen. Viele Dinge, die heute noch im Krankenhaus stattfinden, können zukünftig auch ambulant stattfinden, um die wenigen medizinischen Ressourcen effizient einzusetzen.

Marita Moskwyn, Bereichsleiterin Stationäre Versorgung der AOK Nordost

Inwiefern spielt hierbei die Krankenhausplanung eine Rolle?

Die gemeinsame Krankenhausplanung Berlin Brandenburg war schon ein wichtiger Schritt. Brandenburg als ein Land zu sehen, in dem mittendrin eine große weiße Fläche klafft, ist zu kurz gedacht. Tatsächlich gibt es dort in der Mitte eine Großstadt mit toller Versorgung. Um ein Beispiel zu nennen: Viele Patientinnen und Patienten aus dem nördlichen Brandenburg gehen ins Helios-Klinikum in Buch. Dort werden zentral viele Leistungen erbracht. Das sieht man aber in der Brandenburger Politik nicht gerne, weil es über die Landesgrenzen hinausgeht. Man muss die Vernetzung der Regionen auch in der Planung berücksichtigen. Die Planung muss jedoch nicht nur speziell für die Krankenhäuser gedacht werden, sondern auch sektorenübergreifend. Wir müssen genau schauen: Was brauchen unsere Versicherten und wie können wir in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren die Strukturen auch mit den Anbietern gemeinsam so umbauen, dass dort trotzdem eine gute Versorgung stattfindet?

Was stellen Sie sich vor?

Wir müssen regionale Verbünde organisieren und bestehende Strukturen anpassen. Es kommen auch jetzt schon Krankenhäuser auf uns zu, die ihre Strukturen anpassen möchten. Das sieht man in Templin. Dort hat eine Strukturmigration stattgefunden, die beispielhaft für die ganze Republik ist. Viele Dinge, die heute noch im Krankenhaus stattfinden, können zukünftig auch ambulant stattfinden, um die wenigen medizinischen Ressourcen effizient einzusetzen. Videosprechstunden oder der Austausch unter Ärzten per Videochat, die sich mit ihrer Expertise gegenseitig helfen – das sind moderne Möglichkeiten, mit denen man ganz leicht auch Entfernungen überbrücken kann. Vielleicht hilft uns sogar diese Pandemie darin, die Technik noch besser zu nutzen. Das kann auch einen Schub geben, die Versorgung zu verbessern.

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