Berlins erste Frau mit Professorentitel – zum 150. Geburtstag von Lydia Rabinowitsch-Kempner (1871-1935)

Lydia Rabinowitsch-Kempner wurde am 22. August 1871 in Kowno, im heutigen Litauen, als Tochter einer kinderreichen jüdischen Brauereifamilie geboren. Lydia machte einen Schulabschluss und nach dem Tod des Vaters ermöglichte ihre Mutter allen neun Kindern ein Studium. Dies war der Beginn eines damals ungewöhnlichen Wissenschaftler- und Frauenlebens, das auch aus heutiger Sicht bemerkenswert erscheint.

So gehörte sie zu den ersten studierenden Frauen in der Schweiz und konnte sich als erste Frau am Institut für Infektionskrankheiten bei Robert Koch und später an der Charité als führende Wissenschaftlerin in der Erforschung und Bekämpfung der Tuberkulose behaupten. Schließlich erhielt sie als erste Frau in Berlin und zweite in Deutschland für ihre bakteriologischen Leistungen einen Professorentitel.

Porträt von Dr. Katharina Graffmann-Weschke
Dr. Katharina Graffmann-Weschke, Autorin dieses Beitrages über das Leben und Wirken von Lydia Rabinowitsch-Kempner

Auf Tuberkulose untersuchte sie zum Beispiel die Löwen im Berliner Zoo, oder auch die Butter und Milch der Meierei Bolle. Der in der Butter gefundene neue Tbc-Erregertyp wurde nach ihr Rabinowitsch-Bazillus benannt, mit der Meierei Bolle kam es im Rahmen von Tuberkulosekontrolluntersuchungen bei Milchprodukten zu erheblichen Unstimmigkeiten. So fasste Robert Koch die Ergebnisse seiner Mitarbeiter in seinem Brief an das für das Medizinalwesen zuständige Kultusministerium vom 2. Januar 1899 folgendermaßen zusammen: „Die Untersuchungen der vergangenen Zeit hätten ergeben, dass die Gefahr der Übertragung der Tuberkulose durch Fleisch eher unbedeutend sei, da dieses normaler Weise vor dem Genuss gebraten würde. Stattdessen trete die Gefährdung der Bevölkerung durch Milchprodukte in den Vordergrund, weil diese in den meisten Fällen ungekocht genossen würden.“

Koch fügte diesem Schreiben an das Ministerium den von Rabinowitsch-Kempner abgefassten Untersuchungsbericht bei und bemerkte dazu: „Die genaueren Angaben darüber sind in der beigefügten Schrift enthalten, wozu ich mir g. geh. [ganz gehorsamst, K.G.-W.] zu bemerken erlaube, daß ich mich stets von der Richtigkeit der Arbeiten der Fr. Prof. Rabinowitsch überzeugt habe und für deren Zuverlässigkeit einstehen kann.“ Sie entwickelte schließlich ein Pasteurisierungsverfahren für die weit verbreitete Milch der Meierei Bolle, die mit ihren typischen Milchwagen in ganz Berlin bekannt war.

Im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit begab sie sich auch regelmäßig auf Reisen. Mutig fuhr sie so während ihrer ersten Schwangerschaft nach Montenegro, um sich an der Malariaausrottung zu beteiligen. Auf der Rückfahrt nach Berlin bekam sie ihren ersten Sohn, Robert Kempner (1899-1993), für den weniger später Robert Koch der Taufpate geworden ist.

Ihre Erfahrungen als Mutter von schließlich drei Kindern nutzte sie, verbunden mit ihrem Wissen als Forscherin zur Tuberkulose, um darüber in der Frauenbewegung der zwanziger Jahre Berlins zu informieren, darunter mit Vorträgen beispielsweise zur „Rolle der Frau in der Tuberkulosebekämpfung in Familien“. Auch sie war familiär durch die Tuberkulose schwer betroffen. Sowohl ihr Mann, ebenfalls Mitarbeiter bei Robert Koch und Arzt, wie auch ihre Tochter starben an dieser Krankheit.

Zu Lebzeiten erhielt Lydia Rabinowitsch-Kempner als herausragende Forscherin und für ihr Engagement in der Frauenbewegung zahlreiche Auszeichnungen. Die Erinnerungen darüber gingen nach ihrem Tod aber verloren, weil sie aus einer jüdischen Familie kommend, zahlreiche Maßnahmen der Nationalsozialisten gegenüber Juden ertragen musste und daraufhin keine Würdigung und kein Gedenken mehr stattfand. Sie wurde 1934 als damalige Leiterin des Bakteriologischen Labors am Städtischen Krankenhaus Moabit entlassen und musste die Schriftleitung der angesehenen „Zeitschrift für Tuberkulose“ abgeben.

Wenige Monate später, am 8. August 1935, verstarb sie im Alter von 64 Jahren in Berlin. Sie wurde auf dem Parkfriedhof in Lichterfelde neben ihrem Mann und ihren Kindern beigesetzt.

Vor 23 Jahren wurde ihr Leben und Werk erstmals als medizinhistorische Dissertation veröffentlicht. In der nun anlässlich ihres 150. Geburtstages überarbeiteten Version gibt es einen besonderen neuen Anhang. Dieser zeigt, wie Erinnerungskultur gelebt werden kann. So wurde sie unter anderem bei einer Plakatkampagne des Senats als „Retterin der Milch“ bekannt, es gibt seit einigen Jahren eine Lydia Rabinowitsch Straße in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs und die Charité vergibt ein gleichnamiges Stipendium an junge Medizinerinnen.

Graffmann-Weschke, Katharina (2021):
„So wollen denn auch wir in diesem Sinne handeln“.
Die Bakteriologin Lydia Rabinowitsch-Kempner (1871-1935).
Verlag Hentrich&Hentrich. Berlin, Leipzig

Leave a reply:

Your email address will not be published.