„Fehler in der Behandlung von Frühgeborenen können fatale Folgen haben“

Der G-BA hat die Mindestmengen für Frühchen mit einem Geburtsgewicht unter 1250 Gramm angehoben.
Der G-BA hat die Mindestmengen für Frühchen mit einem Geburtsgewicht unter 1250 Gramm angehoben.

Frau Leitner, Sie sind selbst Mutter eines Frühchens, das mit einem Geburtsgewicht von unter 1250 Gramm auf die Welt kam – und Sie haben hunderte Eltern beraten, die solch ein kleines Frühchen bekommen haben. Wie anspruchsvoll ist es für eine Kinderklinik, so kleine zu Frühgeborene zu behandeln?

Sabine Leitner, Patientenvertreterin im Gemeinsamen Bundesausschuss
Sabine Leitner ist seit 2013 Patientenvertreterin im Gemeinsamen Bundesausschuss und politische Referentin des Bundesverbandes „Das frühgeborene Kind“. Zudem begleitet sie in einem Berliner Familienzentrum Familien mit zu früh geborenen und chronisch kranken Kindern.

Sabine Leitner: Es ist sehr anspruchsvoll, so ein kleines Frühchen zu behandeln. Insbesondere die erste Stunde zählt schon bei der Frage, ob ein Kind überlebt – und ob es mit Behinderungen oder ohne Behinderungen überlebt. Das sind ja sehr kleine, nicht reif entwickelte Kinder, deren innere Strukturen auch noch verletzlich sind. Da kann es unter anderem zu Hirnblutungen kommen, was natürlich gravierende Folgen für die weitere Entwicklung haben kann. Hier geht es um Kinder, für die jede Sekunde zählt und die einen guten Start ins Leben verdient haben. Fehler in der Frühgeborenen-Behandlung können sehr schmerzhafte und fatale Folgen haben und zu irreversiblen Schädigungen führen. Nicht nur das Kind leidet daran ein Leben lang, auch seine Familie ist davon stark betroffen. Nicht selten, so auch in unserem Fall, muss die Mutter ihren Beruf aufgeben, um Arzt- und Fördertermine und vor allem die Pflege des Kindes übernehmen zu können.

Warum ist Routine so wichtig, um Frühchen vor lebensgefährlichen Komplikationen zu bewahren?


Frühgeborene zu betreuen ist ein Teamgeschehen. Es liegt nicht nur an der Kompetenz des ärztlichen Teams, dass das Kind entgegennimmt, sondern es ist von Anfang an ein Team von Pflegerinnen dabei. Das Kind muss verlegt werden in einen Inkubator und darin mit den lebenserhaltenden Maßnahmen verbunden werden. Damit die Pfleger:innen Komplikationen rechtzeitig erkennen und adäquat handeln können, müssen sie geübt sein. Im G-BA haben wir uns die nationalen und internationalen Studien angeguckt. Daraus geht hervor, dass Teams, die mehr als 50 dieser Kinder pro Jahr erstversorgen und betreuen, die besten Behandlungsergebnisse erzielen. Wenn die Fallzahl zu gering ist, dann kann es sein, dass in manchen Schichten die eine oder andere Pflegekraft so ein Extremfrühchen noch gar nicht gepflegt hat. Dann könnten Fehler passieren, die bei Pfleger:innen, die diese Kinder häufiger behandeln, natürlich nicht vorkommen. Und das kann bei diesen besonders zerbrechlichen Kindern fatale Folgen haben – wenn es beispielsweise zu einer Unterversorgung mit Sauerstoff oder einer Hirnblutung kommt.

„Die Kliniken schließen ja nicht, sie können lediglich die Babys unter 1250 Gramm nicht mehr behandeln.“

Warum hat der G-BA die Mindestmenge dann nicht auf 50 Fälle, sondern auf 25 Fälle pro Jahr erhöht?


Wir sind als Patientenvertretung mit unserem Votum im G-BA mit nur 25 Fällen für eine Mindestmenge einen Kompromiss eingegangen, um nicht zu viele Kliniken in der Behandlung von Frühgeborenen unter 1250 Gramm einzuschränken. Das sind wenigstens zwei Kinder dieser Gewichtsklasse, die im Monat von den Kliniken versorgt werden. Wir wissen, dass viele Stationen gute Arbeit leisten. Aber es geht auch darum, eine für ganz Deutschland vertretbare Lösung zu finden, der sich jedes Bundesland anschließen muss. Die Kliniken schließen ja nicht, sie können lediglich die Babys unter 1250 Gramm nicht mehr behandeln. Alles andere bleibt, wie es ist.


Durch die Entscheidung des G-BA, die Frühchen-Mindestmenge auf 25 zu erhöhen, erhalten bundesweit rund 40 bis 50 kleine Perinatalzentren ein Behandlungsverbot dieser Kinder. In Mecklenburg-Vorpommern ist zum Beispiel das Klinikum Neubrandenburg betroffen. Das Team dieser Kinderklinik hat im Jahr 2021 nur 7 Frühchen unter 1250 Gramm Geburtsgewicht behandelt. Was bedeutet so wenige Fälle für die Qualität der Behandlung?

Wenn das Klinikum nur sieben Frühchen im Jahr 2021 hatte, waren das pro Monat gerade mal 0,58 Kinder, die dort behandelt wurden. Wir sehen das als wirklich zu wenig an. Ein Patient, der sich einer schwierigen Operation unterzieht, würde auch nicht gerne in ein Haus gehen wollen, dass diese OP nur einmal im Monat macht. Wir müssen bei diesen Kindern davon ausgehen, dass sie aufgrund ihrer Unreife multifaktorielle Erkrankungen mit sich bringen können, die eine bis zu hundertprozentiger Beatmung, künstliche Ernährung über Sonden und auch operative Eingriffe bedingen. Da braucht es spezifisches Fachwissen, Erfahrung und Routine, um sie gut betreuen und behandeln zu können.

„Obwohl die Wege in den skandinavischen Ländern viel weiter sind, sterben dort im Schnitt weit weniger Frühchen als bei uns.“

Die Klinik hat eine Ausnahmegenehmigung beantragt – und argumentiert, bei Notfall-Geburten würde beim Transport in weiter entfernte Zentren wertvolle Zeit verloren gehen. Hat der G-BA diese Gefahren übersehen, als er die Mindestmenge erhöhte?


Der G-BA hat eine Folgenabschätzung machen lassen, die ergeben hat, dass die erhöhten Fahrwege vertretbar sind. Viele Fachexperten unterstützen diese Einschätzung, da Frühgeburten in den meisten Fällen planbar sind. Deutschland hat in Relation zur Einwohnerzahl drei bis viermal so viele Perinatalzentren als zum Beispiel Schweden und Finnland, die auf die Behandlung von Frühchen unter 1250 Gramm spezialisiert sind. Obwohl die Wege in den skandinavischen Ländern viel weiter sind, sterben dort im Schnitt weit weniger Frühchen als bei uns.


Würden wir dem Vorbild skandinavischer Länder folgen, hätten wir eine Hebammenbetreuung seit Beginn der Schwangerschaft und würden noch frühzeitiger erkennen, ob es notwendig ist, die Schwangere vorzeitig in eine Klinik zu bringen. Ich bin auch der Meinung, dass unsere niedergelassenen Gynäkologen jede Schwangere über die Gefahr einer Frühgeburt, die dazugehörigen Anzeichen und die dafür aufzusuchende Klinik mit entsprechendem Level aufzuklären haben. Wenn man gleich beim Eintreffen im Perinatalzentrum identifizieren würde, dass man noch verlegen kann und dies gleich umsetzen würde, so könnten viele dieser vulnerablen Kinder noch in ein erfahreneres Level 1 Zentrum verlegt werden, welches aufgrund der Vielzahl von Fällen schon jede Komplikation erlebt hat und dieser auch begegnen kann. Meines Erachtens fanden in Mecklenburg-Vorpommern 2021 zehn Frühgeburten in Kliniken statt, die eigentlich keine Frühgeborenen entbinden dürften.


Das zweite Argument des Klinikums Neubrandenburg lautet, dass die Mindestmenge als Parameter nicht ausreiche, um die Qualität der Behandlung zu beurteilen. Das Klinikum halte eine gute Ausstattung mit Pflegekräften vor, dies müsse auch berücksichtigt werden. Was sagen Sie zu diesem Argument?


Die Bemühungen den Personalvorgaben zu entsprechen, würdigen wir sehr. Das haben viele Kliniken leider nicht umgesetzt und auch nicht den Rahmen dazu geschaffen. Uns geht es in erster Linie um die vom G-BA festgelegten Personalanforderungen in der Besetzung der Schichten und der geforderten Qualifikationen. Wir wissen, dass es einige Kliniken gibt, die weniger Kinder dieses Gewichtes gut versorgen. Dennoch ist bei nur sieben Frühchen im Jahr die Gefahr groß, dass nicht jede Pflegekraft und auch nicht alle ärztliche Stellvertre-ter allen den zur Versorgung notwendigen Erfordernissen entsprechen können.
Ich bin übrigens sehr beeindruckt über den in der ARD ausgestrahlten Bericht über das Geld, dass mit Frühgeburten verdient wird. Ich finde, diesen Bericht sollte sich jeder Journalist vor einer Berichterstattung anschauen, um auch die Zusammenhänge der Ökonomie der Häuser zu begreifen.


Für den Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ haben sie in der Selbsthilfe hunderte Eltern von zu früh geborenen oder kranken Kindern beraten. Haben Sie in ihrer Beratung auch Frühchen-Eltern betreut, die es hinterher bereut haben, dass sie für die Geburt ein kleineres, wohnortnäheres Perinatalzentrum ausgewählt haben – und nicht in ein größeres, weiter entferntes Perinatalzentrum gefahren sind?


Diese Frage stellt sich in jeder Familie, die plötzlich mit einem Kind entlassen wird, das durch Komplikationen entweder chronisch erkrankt ist oder eben eine irreversible Behinderung aufweist. In diesen Beratungen muss man immer beurteilen, was das Kind mitgebracht hat – natürlich kann es aufgrund der Grund-Unreife des Kindes auch in größeren Kliniken genauso schwierig sein. Aber dennoch, diese Frage, ob sie in der falschen Klinik waren, stellen sich Eltern schon. Und diese Fragen gehen auch nicht mehr weg. Das ist einfach das Schlimme dabei, dass eine Art von Schuld plötzlich eine Rolle spielt, die eigentlich keine Rolle spielen darf. Die Eltern sind Laien, die kriegen ihr erstes Kind, fahren diese Klinik an, die vielleicht nicht genau der geeignete Ort ist – und das können Sie nicht wissen. Und trotzdem verfolgt es gerade die Mütter, dieses: „Hätte ich mich vorher informieren können? Hätte ich es nicht wissen müssen? Da gibt es sogar eine Internetseite, wo man gucken kann, wie viele Kinder hat diese Klinik betreut. Aber die habe ich nicht gesehen.“ Also das sind so Fragen, die dann die Eltern umtreibt. Und die sie einfach nicht loslassen. Und sie brauchen eine ganze Zeitlang, um sich dem anzunehmen, was ist.

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