Die strukturelle Lücke in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), also das Verhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben, wird nach den Wahlen 2021 bei ca. 20 Milliarden Euro liegen – Tendenz steigend. Die Krisenlasten, die Zunahme alterungsbedingter Erkrankungen und vor allem die teure Gesetzgebung der aktuellen Legislaturperiode vergrößern diese strukturelle Lücke immer weiter. Der demografische Wandel wird diesen Effekt verstärken, da perspektivisch die Erwerbsbevölkerung weiter abnehmen wird. Das Stadt-Land-Gefälle wird größer, da insbesondere die ländlichen Regionen mit der Alterung der Gesellschaft kämpfen werden.

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Hinzu kommt eine steigende Komplexität in der Versorgung. Das medizinische Wissen wächst rasant und zu den schon heute existierenden Behandlungen kommen stets neue hinzu, die immer spezifischer und teurer sind. Diese Komplexität stellt kontinuierlich größere Herausforderungen an die Praxis und an die Finanzierung. Im Ergebnis droht eine steigende Über-, Unter- und Fehlversorgung zu immer höheren Kosten.

Die wachsende strukturelle Lücke und die zunehmende Komplexität in der Versorgung haben Folgen und verschärfen die für das Gesundheitswesen spezifische dreifache Knappheit aus Geld, Gesundheit und Gesundheitsberufen. Kurz: Es stellt sich die Frage, wie die begrenzten Mittel zielgerichtet eingesetzt und dabei Versorgungsressourcen geschaffen werden können. Ansonsten ist das Leistungsversprechen der GKV – eine qualitativ hochwertige und wirtschaftliche Versorgung für jeden Menschen – in Gefahr.

Die entscheidende Frage lautet: Wie können wir die strukturelle Lücke schließen und das Leistungsversprechen der GKV auch in Zukunft einlösen?

Finanzierung mit verlässlichem Mix nachhaltig sichern

Die AOK Nordost setzt sich für eine nachhaltige, gerechte, sektorenübergreifende und beitragsfinanzierte Krankenversicherung ein, die den Versicherten einen optimalen medizinischen Nutzen garantiert, wirtschaftlich erfolgt und bestmögliche Qualität sichert.

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Zum notwendigen Finanzierungsmix gehört ein regelhafter und fairer Bundeszuschuss, mit dem gesamtgesellschaftliche Aufgaben bereits jetzt gegenfinanziert werden und der regelmäßig an die reale Kostenentwicklung angepasst werden muss. Auch die Private Krankenversicherung (PKV) muss für gesamtgesellschaftliche Aufgaben einbezogen werden. Darüber hinaus sollten alternative Finanzierungsmöglichkeiten etwa über Anleihen für Investitionen in den Strukturwandel ins Auge gefasst werden.

Darüber hinaus sind gerechte Beiträge, eine Mischung aus einer Anhebung des allgemeinen Beitragssatzes und der Zusatzbeiträge, die weiterhin als Wettbewerbsinstrument dienen, Ansätze für eine nachhaltige Finanzierung. Auch die Leistungserbringer müssen sich mit einem „Solidarbeitrag“ – also kurzfristigen Einsparungen – an der GKV-Finanzierung beteiligen, bis Strukturreformen greifen. Ergänzend sollte die Belohnung von therapiegerechtem Verhalten von Patient:innen mit dem Ziel geprüft werden, Steuerungseffekte auszulösen.

Bei der Gestaltung der zukünftigen Pflegeversicherung sind die Senkung der Eigenanteile der Pflegebedürftigen durch Leistungsdynamisierung und ein regelhafter Bundeszuschuss wichtige Ziele. Aber auch die verpflichtende Finanzierung der Pflegeinvestitionskosten durch die Länder kann dazu beitragen, die Versicherten vor finanzieller Überforderung zu schützen. Die demografisch bedingte Ausweitung der Zahl der Pflegebedürftigen erfordert aber auch angemessene Beitragssatzanpassungen.

Gleichzeitig können Wahltarife, Pflegebudgets und Bonussysteme bei den Kranken- und Pflegekassen wirksame Anreize schaffen, um Patient:innen zur Annahme strukturierter Behandlungen zu motivieren und Leistungen stärker auf die Patient:innen zuzuschneiden.

Versorgung muss bei den Patient:innen ankommen

Versorgungsleistungen müssen in Zukunft zielgerichteter bei Patient:innen ankommen, um damit die Wirkung der Versorgung zu erhöhen.

Krankenhausreform mutig angehen und Ambulantisierungspotential nutzen

Um die Strukturen der gesundheitlichen Versorgung zukunftsfähig zu gestalten, brauchen wir mutige und konsequente Schritte. Dazu sind fachliche Konzentration von Expertise (Zentrenbildung), deren digitale Vernetzung untereinander und die Ausschöpfung des Ambulantisierungspotentials erforderlich.

Auf dem Weg zu diesen neuen und zukunftsorientierten Strukturen muss nicht jedes Krankenhaus alles anbieten. Vielmehr gilt es, die verfügbaren Ressourcen sektorenübergreifend sinnvoll zu bündeln und Kompetenzen zu konzentrieren, um so eine hohe Qualität zu gewährleisten. Der Grundsatz „so viel ambulant wie möglich, so wenig stationär wie nötig“ ist dabei die Maxime. Das regionale Ambulantisierungspotential muss erkannt und die Möglichkeiten des ambulanten Operierens müssen ausgeweitet werden.

Es sollen ambulant-stationäre Zentren entstehen, die medizinische Grundversorgungsbedarfe abdecken. Gleichzeitig erfolgt eine Leistungskonzentration und Spezialisierung an entsprechend ausgerichteten Krankenhäusern, verbunden mit qualitätsbasierten Mindestmengenregelungen. Regionale Versorgungszentren sind telemedizinische an Maximalversorger anzubinden. Ein weiterer wichtiger Baustein sind vernetzte Strukturen, wie sie die AOK Nordost mit ihren Partnern über das Angebot Mein AOK-Gesundheitsnetz® bereits seit über einem Jahrzehnt anbietet.

Die Landesregierungen müssen ihrer Investitionsverantwortung für die Kliniken nachkommen, im ländlichen Raum auch für kleine Kliniken mit Versorgungsperspektiven. Die Investitionsquote der Länder muss unbedingt erhöht werden.

Schließlich soll eine sektorenunabhängige, gemeinsame Versorgungsplanung angestrebt sowie sektorenübergreifende Finanzierungsformen entwickelt werden, die sich an den individuellen Behandlungsergebnissen der Patient:innen orientieren.

Zielgenauere Versorgung ermöglichen

Präzise und zielgenaue Versorgungsangebote können die Effektivität der Versorgung erhöhen und die AOK Nordost will diese ihren Versicherten zukünftig zugänglich machen. Dazu ist die AOK Nordost eine Kooperation mit der Hauptstadt Urologie in der Charité eingegangen. Hier kann eine Blaupause für die künftige Versorgung in Zeiten der Präzisionsmedizin und eine qualitätsgesicherte Translation neuer – bereits zugelassener – Diagnostik- und Therapieverfahren in die (Regel-)Versorgung geschaffen werden. Der Ansatz der präzisen Netzwerkmedizin, der sowohl Patient:innen, niedergelassene Ärzt:innen, aber auch Kliniken und Forschungszentren aktiv einbindet, kann ein guter Weg sein. In Zukunft sollten hierbei u. a. Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität gefördert werden.

Patientensicherheit und Qualität fördern und ausbauen

Qualität muss in der medizinischen Versorgung eine entscheidende Rolle spielen. Sie ist die wichtigste Stellschraube für die Sicherheit und körperliche Unversehrtheit von Patient:innen. Dazu ist die Orientierung an Mindestmengen und Strukturvorgaben für spezialisierte Eingriffe und die Verankerung von weiteren verbindlichen Qualitätskriterien auch im Krankenhausplan unerlässlich.

Qualitätskriterien müssen für die Patient:innen transparent und nachvollziehbar sein, so dass sie geeignet sind, eine Auswahl oder Entscheidung zu treffen. Sie müssen Hilfestellungen bei der Orientierung und Bewertung von Behandlungsdaten geben und verständlich und leicht auffindbar sein. Wir unterstützen mündige Patient:innen dabei, mit ihren Daten umgehen zu können und gesundheitliche Entscheidungen kompetent und informiert zu treffen.

Die AOK Nordost setzt sich dafür ein, dass bundesweite Qualitätskriterien und -standards des Gemeinsamen Bundesausschusses ausgebaut und weiterentwickelt werden.

Gesundheitskompetenz steigern

Mit zunehmender Zielgenauigkeit und Digitalisierung in der Versorgung müssen Patient:innen die Behandlungswege immer mehr auch überschauen, koordinieren und aktiv mitgestalten. Das stellt zunehmend hohe Anforderungen an die Transparenz über Möglichkeiten und Ablauf der Versorgungsleistungen sowie an die Gesundheitskompetenz der Patient:innen.

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Die AOK Nordost steht ihren Versicherten mit individueller und situativer Beratung in Fragen der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung unterstützend zur Seite. Die Förderung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung muss jedoch als gemeinschaftliches Ziel aller im Gesundheitswesen Aktiven und darüber hinaus verfolgt werden. Dabei ist – wie bei anderen Bildungsangeboten – unterschiedlichen sprachlichen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen Rechnung zu tragen. Insbesondere auf die Förderung der digitalen Gesundheitskompetenz sollte ein Fokus gelegt werden, denn sowohl Gesundheitsinformationen als auch Versorgungsangebote sind zunehmend digital gestaltet.

Versorgungsressourcen besser nutzen

Die Stärkung der Gesundheitsberufe spielt eine zentrale Rolle, um die begrenzten Ressourcen in Zukunft besser für die Versorgung der Patient:innen einzusetzen.

Pflege- und Heilberufe stärken

In der Pflege ist es gelungen, bisher unterschiedliche Ausbildungen für Kinder-, Alten- und Krankenpflege in einem Ausbildungsgang zu bündeln, von Schulgeldern zu befreien und mit modernen Curricula auszustatten. Auch in anderen Bereichen müssen die nichtärztlichen Gesundheitsberufe durch eine Berufsrechtsreform modernisiert und aufgewertet werden.

Dem Fachkräftemangel im Gesundheitswesen und in der Pflege muss durch attraktive Rahmenbedingungen für die Beschäftigten abgeholfen werden. Dazu zählen Initiativen der Leistungserbringer ebenso des Bundes und der Länder. Die unterschiedlichen Maßnahmen zur Fachkräftegewinnung müssen immer wieder auf den Prüfstand gestellt und neu justiert werden.

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In der gesundheitlichen Versorgung ist ein Mentalitätswandel vom arzt- zum teamzentrierten Versorgungsansatz notwendig. Die Delegation und Substituierung ärztlicher Leistungen sollte aktiver Bestandteil der Versorgungsstrukturen werden. Nichtärztliche Leistungserbringer sollen deshalb stärker in die direkte und eigenverantwortliche Versorgung von Patient:innen einbezogen werden und „auf Augenhöhe“ mit den Ärzt:innen arbeiten. Zusätzliche Qualifikationen und eine stärkere Profilierung der Berufsbilder führen zudem zu erweiterten Kompetenzen und einem stärkeren Interesse an der Ausbildung und Ausübung nichtärztlicher medizinischer Berufe. Das Fallmanagement durch qualifizierte Fachkräfte muss in die Regelversorgung aufgenommen werden.

Das würde die kontinuierliche Beratung und Begleitung der Patient:innen in einer für sie gut verständlichen Weise im Versorgungsalltag erleichtern. Mit der eigenen Pflege Akademie setzt die AOK Nordost immer wieder neue Impulse, reflektiert Ansätze und entwickelt diese auch in Kooperationen weiter. Zur Stärkung der Pflege in der eigenen Häuslichkeit regt die AOK Nordost eine stärker unterstützende Pflegeberatung an.

Digitale Versorgungsangebote und Monitoring ausbauen

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Die Pandemie hat die Bedeutung, den Nutzen und die Chancen digitaler Anwendungen und Vernetzungen wie elektronische Patientenakte (ePa), digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA) und Telemedizin gezeigt. Die ePA muss als zentrales Element der Versorgung ausgebaut und dringend in die Fläche gebracht werden. Zusammen mit den anderen digitalen Anwendungen muss sie zügig und patientenfreundlich weiterentwickelt werden, auch in ihren digitalen Versorgungs- und Abrechnungsprozessen. Die Bereitschaft der Patient:innen – aber auch die vieler Leistungserbringer -, digitale Leistungsangebote in Form von Videosprechstunden oder Gesundheits-Apps in Anspruch zu nehmen, hat deutlich zugenommen. Dieses Momentum gilt es zu nutzen.

Digitalisierungsangebote können auch die Behandlung multimorbider Pflegebedürftiger mit komplexen Erkrankungsbildern befördern, die Arbeit der Beschäftigten in der Pflege erleichtern sowie dabei helfen, Dokumentationsprozesse und den Austausch von Daten effektiver gestalten.

Die Sicherheit der Patientendaten und deren Freigabe durch die Versicherten stehen dabei an oberster Stelle. Für die Weiterentwicklung der Versorgung und die zielgerichtete Fortentwicklung des Gesundheitswesens ist die Nutzung anonymisierter Daten unerlässlich. Die Patient:innen sollen aber immer selbst über die digitale Nutzung und Weitergabe ihrer Daten entscheiden können. Letztendlich braucht es eine ehrliche Diskussion, ob die Spende von Daten ein solidarischer Akt ist, der die Versorgung in Zukunft zielgenauer, wirtschaftlicher und effektiver machen und somit zum Vorteil aller weiterentwickeln kann.

Unsere Erfahrungen mit dem Strukturwandel hilft, Lösungen für Herausforderungen von heute und morgen zu finden

Das Ziel, das Leistungsversprechen der GKV auch weiterhin zu garantieren, können wir erreichen, wenn die vorgestellten kurzfristigen Maßnahmen mit einem nachhaltigen Strukturwandel einhergehen, der Versorgung präziser, verfügbarer und sicherer macht und so letztendlich zu mehr Versorgungseffektivität führt. Im Nordosten mit der Metropole Berlin und den Flächenländern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern erleben wir die Herausforderungen, die auch in anderen Regionen Deutschlands bald Realität sein werden, deutlich früher. Unsere Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre, unsere Ideen und Lösungen teilen wir gerne mit allen, die ebenso an patientenorientierten Veränderungsprozessen interessiert sind.