Das deutsche Gesundheitssystem ist kompliziert – für viele zu kompliziert. Gerade ältere Menschen, die besonders darauf angewiesen sind, blicken im Dschungel der unterschiedlichen Angebote kaum noch durch. Hier sollen sogenannte Lotsen den Patientinnen und Patienten helfen, sich zurecht zu finden. Aber Lotse ist nicht gleich Lotse: Agnes, agnes zwei, Onkolotsen, Cardiolotsen, Pflegeberatende. Es gibt so viele verschiedene Ansätze, dass manche sich fragen, ob es nicht bald den Lotsen für die Lotsen braucht. Klarheit schafft dieses Interview über Unterschiede und Gemeinsamkeiten und wie Patientinnen und Patienten den passenden Lotsen bekommen.
Herr Schilder, als Bereichsleiter Beratung und Service bei der AOK Nordost kennen Sie sich mit dem Thema Lotsen gut aus. Wozu benötigen wir überhaupt Lotsen im Gesundheitssystem?
Mathias Schilder: Wir greifen im Lauf unseres Lebens oft auf Lotsen zurück, ohne diese immer gleich so zu benennen. Sie werden gebraucht, weil gerade das Gesundheitswesen für viele Menschen in kritischen Situationen unübersichtlich wird. Deshalb erfüllen auch wir als Krankenkasse zum Teil eine Lotsenfunktion. So wissen zum Beispiel unsere Kunden- sowie Pflegeberaterinnen und -berater gut darüber Bescheid, mit welcher Art der Unterstützung sie Kunden hilfreich zur Seite stehen können.
Herr Wiets, als Bereichsleiter Gesundheitslandschaft bei der AOK Nordost haben Sie einen guten Überblick: Wie viele verschiedene Lotsenmodelle zählen Sie, an denen allein die AOK Nordost beteiligt ist?
Waldemar Wiets: Ich würde eher von Lotsen-Ansätzen als von Modellen sprechen. Aktuell beinhalten 24 Verträge einen Lotsenansatz.
Wie meinen Sie das?
Waldemar Wiets: Lotse ist kein geschützter Begriff. Er definiert sich über seine Funktion. Nehmen wir zum Beispiel die Hausärztinnen und -ärzte. Die werden auch oft als Lotsen bezeichnet, weil sie erste Ansprechpartner für die Versicherten in gesundheitlichen Fragen sind und sie in dieser Funktion auch ein Stück weit durch das Gesundheitssystem lotsen. Aber in diesem Fall liegt der Fokus auf der ärztlichen Steuerung.
Dann gibt es Situationen, in denen es gar nicht vorrangig um ärztliche oder medizinische Leistungen geht. In diesem Fall hilft der Lotse, indem er oder sie vernetzt und die individuell notwendigen Dinge zusammenbringt. Grob können wir also zwei Lotsenmodelle unterscheiden: Patientenlotsen und Gesundheitslotsen. Wobei Letztere akkurater als Fallmanagerinnen und -manager bezeichnet werden sollten.
Mathias Schilder: Der Patientenlotse ist dabei ein diagnosegetriebener Lotse. Die Patientinnen und Patienten wenden sich mit einem bestimmten Krankheitsbild an ihn oder der Lotse tritt aufgrund dieses Krankheitsbildes direkt an sie heran – wie es bei unserem Cardiolotsen der Fall ist. Die Gesundheitslotsen beziehungsweise Fallmanagerinnen und -manager hingegen sorgen dafür, dass die Patientinnen und Patienten die unterschiedlichen Angebote kennen und dass diese zur jeweils richtigen Zeit zur Verfügung stehen.
Bei den vielen Lotsen-Ansätzen und den daraus resultierenden unterschiedlichen Angeboten für die Versicherten: Brauchen wir bald noch einen Lotsen, der uns durch das Lotsensystem führt?
Waldemar Wiets: Es gibt durchaus Stimmen, die sich für die eine Lotsen-Lösung aussprechen, die für alle gleichermaßen gilt. Aber das wäre aus meiner Sicht weder realistisch noch sinnvoll.
Warum nicht?
Waldemar Wiets: Die Lotsen müssen ja eng in das Gesundheitssystem und in das Pflegesystem eingebunden sein. Und für beide gibt es unterschiedliche Gesetzesgrundlagen: Das Sozialgesetzbuch (SGB) V und das SGB XI. Dabei gibt es Angebote, die viele Parallelen aufweisen, sich dann aber doch grundsätzlich unterscheiden. Und dieser Unterschied mündet auch immer in unterschiedliche Finanzierungstöpfe. Das macht eine einheitliche Lösung schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Schließlich muss der Bedarf der Versicherten im Mittelpunkt stehen und der unterscheidet sich oftmals von Versichertem zu Versichertem.
Also ist der Lotse eigentlich eine Verlegenheitslösung für ein wahnsinnig kompliziertes System, das sich nicht vereinfachen und übersichtlicher gestalten lässt?
Waldemar Wiets: Wichtig ist auf jeden Fall die individualisierte Begleitung. Was braucht der oder die Versicherte an genau dieser Stelle? Selbst ein noch so schlankes Gesundheitssystem kann darauf keine perfekt passende Antwort liefern. Das wäre nur eine systemische Antwort. Und systemische Antworten klären in der Regel nicht die individuellen Fragen.
Muss also das Gesundheitssystem sogar so kompliziert sein, damit es die individuellen Bedarfe abdecken kann?
Mathias Schilder: Das Wort ‚kompliziert‘ ist an dieser Stelle falsch. Das Gesundheitssystem muss breit gefächert sein, damit es auf alle Nachfragen eine passende Antwort liefern kann. Im Grunde ist der Lotse auch ein Anwalt in einem System von Rechtsvorschriften, die ich als Bürger nicht immer kenne und verstehe.
Können Sie das näher ausführen?
Mathias Schilder: Als Bürger oder Versicherter stehe ich mitunter vor einem regelrechten Gesundheits- und Pflegedschungel von Versorgungsangeboten, Fachrichtungen, Diagnose- und Unterstützungsmöglichkeiten, die mir aber nicht vertraut sind. Der Lotse manövriert mich durch diesen Dschungel, sodass ich die Unterstützungsangebote wahrnehmen kann, die zu meiner gesundheitlichen oder pflegerischen Situation passen. Im Einzelfall unterstützt er auch dabei, Leistungsansprüche gegenüber der Sozialversicherung geltend zu machen.
Ist das die große Gemeinsamkeit aller unterschiedlichen Ansätze?
Waldemar Wiets: Die Gemeinsamkeit besteht meines Erachtens darin, dass sie alle in irgendeiner Form beraten und begleiten. Und dass sie den Versicherten, um mal bei dem Bild von Herrn Schilder zu bleiben, einen einfacheren Zugang zu den einzelnen Angeboten im Dschungel des Gesundheits- und Pflegesystems verschaffen.
Und wer verschafft den Versicherten den Zugang zu den richtigen Lotsen?
Waldemar Wiets: Das ist unterschiedlich. Der Cardiolotse beispielsweise nimmt selbst Kontakt zu den Patientinnen und Patienten auf, und zwar schon am Bett im Krankenhaus.
Kann dieser aufsuchende Ansatz auch ein Grund sein für den Erfolg des Cardiolotsen?
Waldemar Wiets: Ja, das spielt sicherlich eine Rolle. Aber es geht eben auch um die richtige Antwort auf den individuellen Bedarf. Und das muss nicht immer ein Lotse sein. Deshalb sind wir auch strikt gegen die Idee eines Lotsen auf Rezept. Aber der Lotse kann eine Antwort sein.
Der ideale Zustand sieht doch so aus: Alle bekommen ohne großen Aufwand und ohne sich besonders auskennen zu müssen, die Hilfe, die sie benötigen, und zwar unabhängig von den jeweiligen Zuständigkeiten und Sozialgesetzbüchern. Wie schaffen wir das?
Mathias Schilder: Das schaffen wir nur gemeinsam. Wir heißt dabei, die Kranken- und Pflegekassen, die Leistungsanbieter und im Rahmen der Daseinsvorsorge auch die kommunale Ebene. Die kommunale Infrastruktur sollte so auf- beziehungsweise ausgebaut werden, dass die Versorgungsangebote für die Bürgerinnen und Bürger niedrigschwellig erreichbar sind.
Wie können wir als Krankenkasse die Bürgerinnen und Bürger unterstützen?
Mathias Schilder: Lassen Sie uns das Ganze am Beispiel der Pflegestützpunkte betrachten: Im politischen Raum wird dafür geworben, diese Pflegestützpunkte zu Pflegekompetenzzentren oder zu Koordinierungsstellen rund ums Alter weiterzuentwickeln. Das Pflegekompetenzzentrum ist dabei ein Zusammenschluss aller Institutionen vor Ort, die zur Pflege beraten – Pflegekasse, Pflegedienste, etcetera. Ein solches Zentrum wurde jetzt beispielsweise in Lübbenau eröffnet. Letztlich geht es darum, mit den begrenzten Ressourcen die Menschen in ihren jeweiligen Lebensphasen so zu beraten und zu betreuen, dass sie noch möglichst lange und gut zu Hause leben können.
Waldemar Wiets: Wir können zwei unterschiedliche Bedarfe definieren. Der eine kommt aus dem Menschen heraus, der aktiv Unterstützung sucht. Auf der anderen Seite gibt es die Angebote, die eine Krankenkasse aktiv ihren Versicherten unterbreitet, weil sie aus ihrer Erfahrung und vielleicht auch aus der Analyse ihrer Daten weiß, dass sie die Versicherten zu einem bestimmten Zeitpunkt mit diesem ganz bestimmten Angebot unterstützen kann. Nehmen wir den Cardiolotsen. Hier bekommen die Patientinnen und Patienten ein Hilfsangebot, worüber sie sich vorher noch keine Gedanken gemacht haben. Die Entscheidung, ob sie diese Hilfe annehmen, liegt immer noch bei ihnen. Aber wir sagen ihnen ganz deutlich: „Wenn der Cardiolotse an deiner Seite ist, dann wird es dir für die nächste Zeit besser gehen.“
Welche Rolle spielt dabei die Analyse der Daten, die einer Krankenkasse vorliegen?
Waldemar Wiets: In Zukunft spielen diese Daten hoffentlich eine größere Rolle. Mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz gibt es jetzt schon erste Konstellationen, in denen die Kassen einzelne Versicherte auf bestimmte Gesundheitsrisiken hinweisen dürfen. Ein wichtiges Thema ist beispielsweise die Polymedikation, wenn viele Arzneimittel verschrieben worden sind, die Neben- oder Wechselwirkungen haben können. Bei uns laufen aus unterschiedlichen Quellen diese Informationen wegen der zentralen Abrechnung zusammen. So kennen wir Extremfälle, wo Patienten mitunter mehr als 20 Wirkstoffe gleichzeitig einnehmen. Das grenzt an unterlassene Hilfeleistung, wenn wir die Versicherten nicht darauf ansprechen.
Bei Gesundheitsdaten geht es auch um Digitalisierung. Welche Rolle spielt sie beim Lotsen-Thema?
Waldemar Wiets: Die Digitalisierung spielt in Zukunft eine entscheidende Rolle. Wir arbeiten daran, mithilfe künstlicher Intelligenz Informationen aus unseren Datenbanken zielgenau verfügbar zu machen – natürlich unter Einhaltung aller Datenschutzregeln. Damit werden wir unsere Kunden- sowie Pflegeberaterinnen und -berater in deren Lotsenfunktion zukünftig sehr gut unterstützen können. Konkretes Beispiel: Ein Versicherter oder eine Versicherte wendet sich mit einem bestimmten Anliegen an unsere Kundenberaterinnen und -berater. Die können dann den betreffenden Namen ins System eingeben und sofort erkennen, welche Angebote aus dem großen Portfolio an Gesundheits- sowie Pflegeleistungen und -programmen für den oder die Versicherte in Frage kommen könnten. Darauf können sie die Versicherten dann aktiv hinweisen und informieren.
Abschließende Frage: Wie können Lotsen-Ansätze die Qualität der Versorgung der Versicherten steigern?
Mathias Schilder: Lotsen steigern die Qualität der Versorgung der Versicherten uneingeschränkt. Ein Beispiel: Pflegeberaterinnen und -berater haben auch die Aufgabe, eine Unter-, Über- und Fehlversorgung im pflegerischen Portfolio zu dokumentieren. Fällt ihnen auf, dass in einer Region eine bestimmte Versorgung nicht angeboten wird, dann dokumentieren die Pflegeberaterinnen und -berater das und stimmen mit den Sozialleistungsträgern vor Ort darüber ab, was die konkreten Bedarfe sind und wie der Zugang zu entsprechenden Angeboten organisiert werden kann.
Waldemar Wiets: Das ist doch ganz einfach: Wenn die Versicherten die notwendige Leistung zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Versorgungsstufe in Anspruch nehmen können, dann haben wir ziemlich viel richtig gemacht.
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