Get it done! Appell für eine große Gesundheitsreform

Über eine Veränderung der Gesundheitsversorgung wird seit Jahrzehnten diskutiert. Unter anderem der Innovationsfonds hat wichtige Impulse für eine stärker integrierte und digitalisierte Gesundheitsversorgung gegeben. Mit wegweisenden Maßnahmen zur Digitalisierung hat die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode eine wichtige Weichenstellung in Richtung Erneuerung eingeleitet. In der kommenden Legislaturperiode wird es darum gehen, diese Innovationsimpulse zu verstetigen, damit der Patientennutzen in den Mittelpunkt des gemeinsamen Handelns rücken kann und die dafür nötigen Veränderungen in der Regelversorgung wirksam werden. 

Notwendige Neuausrichtung

Der Wunsch nach einer Neuausrichtung des Gesundheitswesens spiegelt sich in einer Vielzahl von Papieren wider. Wir messen den Veränderungswillen der vorliegenden Papiere danach, ob sie auch bereit sind, ihre eigene Rolle zu hinterfragen und im Lichte neuer technologischer Möglichkeiten und Erkenntnisse der Medizin und Versorgungsforschung neu zu definieren. Vorschläge liegen vor. Jetzt ist die Politik gefragt, die Regelversorgung der Bevölkerung anhand der Notwendigkeiten und neuer Möglichkeiten neu auszurichten. 

Gemeinsamer Patientennutzen steht im Fokus

Die Politik ist aufgefordert, den Rahmen so zu verändern, dass alle Akteure künftig ihr Handeln stärker am gemeinsamen Patientennutzen ausrichten, bzw. ausrichten können. Ausgangspunkt für neue Versorgungsstrukturen in der Regelversorgung sollten die wichtigsten Herausforderungen, insbesondere der demografische Wandel und die damit wachsenden Ansprüche an das Gesundheitswesen sein. Der Generationswechsel in den Heil- und Gesundheitsberufen sowie neue wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Ansätze bieten große Chancen für eine Neuausrichtung. 

Neues kommt nicht über Nacht. Eine politische Rahmensetzung sollte die Legislatur übergreifend für einen Zeitraum von etwa zehn Jahre erfolgen, so dass sich alle Beteiligten darauf einstellen können. Eine von Einkommen, regionaler und sozialer Herkunft unabhängige Gesundheitsversorgung ist das Leitbild von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP. Wir appellieren an die Vertreterinnen und Vertreter dieser Parteien und insbesondere an die Gesundheitspolitiker, sich dieser über eine Legislaturperiode hinausgehenden Aufgabe zu stellen. 

Der wichtigste Beitrag der Politik wird darin bestehen… 

  • eindeutige Zuständigkeiten, insbesondere zwischen Bund und Ländern herzustellen und den Regionen zu ermöglichen, für ihren Verantwortungsbereich die besten Lösungen zu finden. Die bisherige bundesweite ambulante und länderspezifische stationäre Planung ist auf Landesebene zusammen zu führen. Dabei muss die Entscheidung über den Einsatz von Ressourcen auch mit der Verantwortung zu ihrer Finanzierung zusammenfallen.
     
  • die Kassenaufsicht ist durchgängig auf Landesebene anzusiedeln und in ihrer Prüfpraxis ermöglichend und zukunftsgerichtet auszurichten. Kassen sollten dann investive Rücklagen bilden und eine auf den Patientennutzen ausgerichtete Gesundheitsversorgung mit etablieren können. 
  • die Qualität (Struktur-, Prozess und Ergebnisqualität) in den einzelnen Regionen Deutschlands zum neuen Qualitätsmaßstab des Gesundheitswesens zu machen und damit einen Wettbewerb der Gesundheitsregionen zu starten. Die Digitalisierung ermöglicht erstmals, die zunehmend bürokratisierte und an prozessbezogenen Ersatzparametern ausgerichtete einheitliche “Bewirtschaftungslogik” durch eine bezogen auf den Gesundheitsnutzen ergebnisbezogene Leistungstransparenz zu ersetzen. Der Bürger, die Bürgerin, der Patient, die Patientin, die Akteure in den politischen Parteien, kurz alle Beteiligten und Betroffenen können sich dadurch ein Bild davon machen, welcher Region es dabei besonders gut gelungen ist, die Gesundheit ihrer Einwohner zu erhalten oder wiederherzustellen. 
  • den Einsatz der Heil- und Gesundheitsberufe besser auf den Versorgungsbedarf einer demografisch gealterten Gesellschaft abzustimmen. Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten dieser Professionen sollten neu geordnet und multiprofessionelle Teamarbeit auf Augenhöhe verbindlich gemacht werden. Das Angebot an Pflegestudiengängen sollte erweitert und der Modellstatus der Studiengänge im Bereich Therapieberufe beendet werden. 
  • sicherzustellen, dass Gesundheitsdaten für eine bessere Versorgung genutzt werden können. Daten aus dem Versorgungsalltag können schnell aufzeigen, ob eine Therapie beim Patienten erfolgreich ist oder welche Therapieoption sich besser anbieten würde. Sie ermöglichen auch die Optimierung von Forschung und Entwicklung sowie neue datenbasierte Gesundheitslösungen. 
  • Investitionen für Gesundheit in Deutschland zu sichern. Um Deutschlands Innovationsfähigkeit für die Zukunft zu sichern, sind international wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen für ein innovationsoffeneres Gesundheitssystem notwendig. Wir schlagen vor, Forschung und Entwicklung (F&E), wie in den meisten OECD-Staaten (27 von 34) durch steuerliche Anreize zu fördern, kostensteigernde bürokratische und langwierige Genehmigungsprozesse abzubauen und den Schutz geistigen Eigentums zu sichern, um Forschung in Deutschland attraktiver zu machen. Die Entwicklung neuer Finanzierungskonzepte für Gesundheitsinnovationen wie zum Beispiel dem Modell „Weiße Anleihen“ sollten diskutiert werden. 

Regionalisierung und Neustrukturierung

Die Rahmensetzung ist so zu korrigieren, dass die institutionellen Akteure motiviert sind, die richtigen Dinge zu tun, also Prozesse zu effektivieren und die Dinge richtig zu tun, d.h., die Effizienz zu steigern. Wir brauchen neue und offenere Rahmenbedingungen, die sektorenübergreifende Programme und Strukturen nicht nur ermöglichen, sondern fördern. 

Derzeit liegen verschiedene Konzepte und Ansätze vor, wie diese Neuausrichtung erfolgen kann, die, bei allen Unterschieden, eine Basis für die Fortentwicklung bieten. Alle Vorschläge eint, dass sie vom Patientennutzen aus denken und mehr Handlungsspielräume vor Ort einfordern: 

  • Die AOK Nordost setzt auf die Entwicklung eines ganzheitlichen Versorgungsansatzes. Dadurch sollen Struktur, Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung gesteigert werden. Dabei soll die Versorgung durch einen gemeinsamen regionalen Verbund in Regionen spezifischen Trägerschaften organisiert werden. Ambulante und stationäre Versorgungsstrukturen sollen dabei entlang der zu erwartenden Bedarfe sektoren- und regionenübergreifend unter Berücksichtigung des Ambulantisierungspotenzials gestaltet werden. Die Koordination der Patientenwege sowie eine Ausweitung der Kompetenzen nichtärztlicher Gesundheitsberufe sollen die Ressourcen im Gesundheitswesen bestmöglich verfügbar machen. 
  • Die Robert Bosch Stiftung hat in zahlreichen Modellversuchen wissenschaftsbegleitet ein neues Modell der berufsgruppenübergreifenden Primärversorgung entwickelt und der Öffentlichkeit vorgestellt. Kommunen und Landkreise stehen vor der anspruchsvollen Aufgabe, die Gesundheitsversorgung in ihrem Verantwortungsbereich stärker als wichtigen Standortfaktor zu verstehen und sich auftuende Versorgungslücken durch neue, an den Bedarfen einer alternden Bevölkerung Angebote zu ergänzen und zu verbessern. Die Multiprofessionalität und der Rückgriff auf digitale Lösungen, beispielsweise telemedizinische Leistungen sind dabei wichtige Faktoren einer künftigen Gesundheitslandschaft. 
  • Eine Autorengruppe aus der Gesundheitswirtschaft hat in der Welt der Krankenversicherung/„Zukunft Gesundheit – regional, vernetzt, patientenorientiert, medhochzwei-Verlag, 2021“ ein Konzept für eine Neuausrichtung des deutschen Gesundheitssystems entwickelt, das nach und nach die heutige sektoral aufgeteilte Regelversorgung ablösen soll. Das Ziel: Eine nachhaltige, bedarfsgerechte, robuste und gleichzeitig faire integrierte Gesundheitsversorgung für ganz Deutschland mit Fokus auf Prävention, Gesundheitsförderung und -erhaltung, die den Akteuren ihren Einsatz für Gesundheit und Effizienz belohnt. 
  • Das Netzwerk Deutsche Gesundheitsregionen | NDGR e.V. sieht eine klare Rolle der Regionen beim Auf- und Ausbau der integrierten Versorgung vor Ort. Gesundheitsregionen bringen dazu alle interessierten und relevanten Akteur*innen der Region zusammen und bilden die Plattform für die Konzeption, Implementierung und kontinuierliche Evaluation angemessener Lösungen. Das NDGR hat damit begonnen, den Erfahrungsaustausch zwischen Regionen über machbare und bewährt wirkungsmächtige Ansätze auszubauen und sucht dazu die Zusammenarbeit mit allen einschlägig interessierten Kompetenzträgerinnen und Kompetenzträger. 
  • Die Stiftung Münch hat Überlegungen für eine stärkere Verzahnung von ambulanten und stationären Leistungen entwickelt. Demnach braucht es Anpassungen an den Vergütungssystemen. Eine sektorenübergreifende Versorgung gelingt nur mit einer sektorenübergreifenden Vergütung. Denkbar sind zum Beispiel Regionalbudgets für die ganzheitliche Versorgung der Bevölkerung einer Region. Insbesondere für ländlich geprägte Regionen mit ihren demografischen Herausforderungen kommen sie in Frage. 
  • Die Allianz Kommunaler Großkliniken fordert eine bundesweit einheitliche und qualitätsorientierte Rollenzuweisung und eine entsprechende Konkretisierung der Krankenhausplanung auf Landesebene nach Versorgungsaufträgen und -stufen. 
  • Der Deutsche Evangelische Krankenhausverband fordert einen bundeseinheitlichen Planungs- und Finanzierungsrahmens mit qualitätsorientierten Mindeststandards sowie eine vom Bund geförderte öffentlich zugängliche kleinräumige, regionale Versorgungsbedarfsforschung. Die zentral erhobenen Daten müssen als Grundlage für regionale bedarfsorientierte Versorgungsplanung dienen, um die Prozesse und Entscheidungen vor Ort zu beschleunigen. 
  • Der AOK Bundesverband, Helios, Diakoneo und die mittelfränkischen Bezirkskliniken fordern eine integrierte, sektorenübergreifende Bedarfsplanung, die den Weg für passgenaue regionale Versorgungs- und Vergütungsvarianten frei macht. Diese Vergütungsvarianten können auch regionale Versorgungsnetzwerke umfassen, die gemeinsam Verantwortung für Kosten und Qualität der Versorgung der Bevölkerung tragen, um eine bessere Verzahnung ambulanter, stationärer und digitaler Angebote zu erreichen. Eine nachhaltige Konsolidierung der deutschen Krankenhauslandschaft durch Schließung von gering ausgelasteten und für die Versorgung der Patientinnen und Patienten nicht notwendigen Klinikstandorten steigert daneben die Qualität und Effizienz der Kliniklandschaft. 

Es ist uns bewusst, dass die Veränderung der Kliniklandschaft, die Schaffung neuer Angebotsformen für die Primärversorgung und eine stärkere Strukturierung nach Leistungsfähigkeit großen Mut politischer Entscheider erfordert, diese Veränderungen gegen Ängste, Missverständnisse und bestehende Interessen durchzusetzen. Gleichwohl betrachten wir entsprechende Entscheidungen als überfällig. 

Wir plädieren hier für eine veränderte, von unten nach oben aufgebaute Verantwortungslogik innerhalb des Gesundheitswesens. Ärzte und Pflegekräfte sollen sich alleine den Patientinnen und Patienten und ihren Anliegen widmen können. Die Politik ist jetzt gefordert, klare und Verantwortung zuweisende Strukturen zu schaffen, in denen es den Institutionen, unabhängig von ihrer Form, möglich ist, ihren Beschäftigten gute Rahmenbedingungen zu bieten, damit sie sich mit voller Energie dem Wohlergehen ihrer Patientinnen und Patienten widmen können. 

Alle Unterzeichnenden sind bereit, sich diesen künftigen Herausforderungen zu stellen, und die notwendigen Veränderungen als Person und/oder institutionell mitzutragen. 

  • Prof. Dr. Boris Augurzky, Vorsitzender, Stiftung Münch 
  • Nils Dehne, Geschäftsführer, Allianz Kommunaler Großkrankenhäuser e.V. 
  • Alexandra Eicher, Geschäftsführerin, Unternehmung Gesundheit Hochfranken UGHO GmbH & Co. KG 
  • Dr. Jessica Hanneken, Vice President, BFS health finance GmbH 
  • Prof. Dr. Joseph Hilbert, Vorstandsvorsitzender, Netzwerk Deutscher Gesundheitsregionen e.V. 
  • Dr. h.c. Helmut Hildebrandt, Vorstandsvorsitzender, OptiMedis AG 
  • Prof. Dr. Alexandra Jorzig, Inhaberin Jorzig Rechtsanwälte 
  • Dr. Bernadette Klapper, Bundesgeschäftsführerin, Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe – Bundesverband e.V. 
  • Thomas Lemke, Vorstandsvorsitzender, Sana Kliniken AG 
  • Prof. Heinz Lohmann, Geschäftsführer, LOHMANN konzept GmbH 
  • Dr. Joachim Prölß, Vorstandsvorsitzender, Initiative Gesundheitswirtschaft e.V. 
  • Peter Gausmann, Geschäftsführer, Gesellschaft für Risiko-Beratung mbH 
  • Christoph Radbruch, Vorsitzender, Deutsche Evangelischer Krankenhausverband e. V. 
  • Alexander Schmidtke, Hauptgeschäftsführer, REGIOMED-KLINIKEN GmbH 
  • Rolf Stuppardt, Herausgeber, Welt der Krankenversicherung 
  • Daniela Teichert, Vorstandsvorsitzende, AOK Nordost 
  • Marco Walker, COO, Asklepios Kliniken GmbH & Co. KgaA 

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