Eine neue Rechtsgrundlage für innovative regionale Versorgung 

Die drängenden Probleme im Gesundheitswesen lassen sich mit den bestehenden Regelungen nicht lösen. Darin ist sich die AOK-Gemeinschaft einig. In einem gemeinsamen Positionspapier schlägt sie eine neue Rechtsgrundlage vor. Damit sollen unterschiedliche Probleme in den Regionen individuell gelöst werden können. Pramono Supantia, Experte für Gesundheitsversorgung bei der AOK Nordost, über das Positionspapier und seine Bedeutung für Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Berlin. 

Herr Supantia, worum geht es im Kern in dem AOK-Positionspapier zur sektorenunabhängigen regionalen Versorgung?  

Im Kern geht es darum, aufzuzeigen, wie wir mithilfe einer neuen Rechtsgrundlage drängende Probleme in der Gesundheitsversorgung – wirtschaftlich angeschlagene Krankenhäuser, Fachkräftemangel, fehlende beziehungsweise ineffektiv genutzte finanzielle und personelle Ressourcen – lösen könnten. Mit den bestehenden Regelungen ist das nahezu unmöglich. Da stoßen wir immer wieder an die Grenzen einer in die Sektoren ambulant, stationär und Pflege aufgeteilten Gesundheitsversorgung. Das AOK-Papier macht einen konkreten Vorschlag, wie die Ressourcen optimiert werden können – immer zusammengedacht mit dem Aspekt der Versorgungsqualität. Hier haben wir als AOK die Expertise und wir profitieren von unserem regionalen Netzwerk. Denn wir wissen, wie man regionale Versorgung innovativ gestaltet. Momentan können wir immer nur dort etwas Wasser raufschütten, wo es gerade am schlimmsten brennt. Wir werden aber nicht überall rechtzeitig löschen können und irgendwann haben wir einen Flächenbrand. Das möchten wir mit der neuen Rechtsgrundlage verhindern.   

Brennt es denn gerade schon?  

Ja, wir erleben aktuell, dass zahlreiche Kliniken in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Einige sind da schon, andere befürchten, in eine ähnliche Situation zu geraten. Wir haben ein Krankenhaus, das wird 2025 mit einem zweistelligen Millionenbetrag im Defizit sein. Ein anderes war insolvent und konnte sich nur durch einen glücklichen Zufall gerade noch wieder finanziell stabilisieren.  Krankenhäuser, die weiter von Ballungszentren entfernt sind, haben größere Probleme, Personal zu finden. Für die wird es schwierig, Fachabteilungen und damit verbunden auch die Notfallversorgung aufrechtzuerhalten. Das sind nur einige Beispiele. Im Nordosten Deutschlands stehen wir generell vor besonderen Herausforderungen.  

Pramono Supantia, Experte für Gesundheitsversorgung bei der AOK Nordost

Wie meinen Sie das?  

Da sind zum einen die finanziellen Herausforderungen. Es gibt eine bundesweite Auswertung, wie viel alle Krankenkassen zusammen für jede Versicherte und jeden Versicherten ausgeben und wie viel sie aus dem Gesundheitsfonds bekommen. Dabei zeigt sich: In Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern geben die gesetzlichen Krankenkassen zusammen betrachtet für jede Versicherte und jeden Versicherten im Schnitt mehr aus als sie einnehmen. Und das lässt sich nicht allein mit der Versichertenstruktur, also dem Alter, dem Geschlecht und den Erkrankungen, erklären. In manchen Regionen werden Kranke beispielsweise zu oft unnötig in einer Klinik versorgt. Und die Ausgaben für die stationäre Versorgung sind besonders hoch. 

Zudem haben wir im Nordosten den höchsten Anteil an Krankenhäusern, denen Krankenkassen einen sogenannten Sicherstellungszuschlag zahlen müssen – das sind ein Drittel aller Häuser in Deutschland. Und wir haben die demografische Entwicklung, die gerade in den ländlichen Regionen ein großes Problem darstellt – die Bevölkerung schrumpft, gleichzeitig werden die Menschen immer älter und es kommt zu einer Zunahme an chronischen Erkrankungen. Mit dieser Entwicklung stehen wir allerdings nicht allein da. Deshalb stammt das Positionspapier auch nicht nur von der AOK Nordost, sondern kommt aus dem gesamten AOK-System.  

Was beinhaltet der Gesetzesvorschlag?  

Wir schlagen einen neuen Paragrafen 123 vor, der es den Playern vor Ort ermöglicht, die Gesundheitsversorgung frei zu gestalten, ohne dabei an die Grenzen der Sozialgesetzbücher zu stoßen. Mit der neuen Rechtsgrundlage könnten die Probleme vor Ort gelöst und die finanziellen und personellen Ressourcen so eingesetzt werden, dass sie den konkreten Bedarf abdecken. Lösungen könnten sektorenübergreifend entworfen und sämtliche Vertragspartner mit eingebunden werden, die es dafür braucht – beispielsweise auch die, die unter das SGB XI, die Pflegeversicherung, fallen. Denn schließlich ist es ja so: Es ist das gleiche Fachpersonal mit den gleichen Kompetenzen – ob es nun in der häuslichen Pflege tätig ist oder im Krankenhaus oder in stationären Pflegeeinrichtungen. Aber unter den bestehenden Regelungen kann es nicht übergreifend eingesetzt werden. Die Möglichkeit der freien, sektorenunabhängigen Planung ist der eine zentrale Punkt der neuen Rechtsgrundlage.   

Und der andere?  

Mit dem Paragraf 123 können einzelne Kassen etwas individuell gestalten. Aktuell müssen immer alle gemeinsam und einheitlich handeln. Alle Kassen müssen den Lösungsvorschlägen zustimmen. Und was passiert dann? Nichts. Oder wenig. Oder langsam. Oder alles zusammen. Und deshalb ist das für mich ein ganz wichtiger Punkt bei dem Gesetz: Einzelne Kassen können anfangen, Versorgungsstrukturen umzugestalten, und andere Kassen können sich anschließen. Und wenn bei den teilnehmenden Kassen eine bestimmte Schwelle an Marktanteilen überschritten wird – wir schlagen hier 70 Prozent vor – gilt dieser Vertrag automatisch für alle gesetzlich Versicherten.   

Dann müssen die anderen Kassen das automatisch auch für ihre Versicherten zahlen?  

Ganz genau. Und das ist wichtig. Denn gerade bei Innovationsfondsprojekten ist es beispielsweise so: Auch wenn sie im Ergebnis positiv bewertet wurden, hat man sie trotzdem oft nicht in die Kassenlandschaft gebracht, weil irgendjemand kein Interesse hatte. Aber durch so ein System, wie wir es vorschlagen, entsteht Wettbewerb auf der regionalen Ebene. Es werden Kassen vorangehen und alle anderen können dann mitmachen. Und wenn es dann Kassen gibt, die kein Interesse haben, müssen die sich trotzdem beteiligen, wenn der Marktanteil der teilnehmenden Kassen die 70-Prozent-Marke geknackt hat. Nur so geht es. Wenn sie beispielsweise ein Krankenhaus umwandeln in ein Ambulant-Stationäres-Zentrum, wenn Sie eine Decision Unit zur Kurzzeitüberwachung einrichten, wenn Sie die pädiatrische Versorgung etablieren wollen, dann soll das nicht nur für die Versicherten einer Krankenkasse geschehen, sondern natürlich für alle. Aber damit da überhaupt etwas passiert, müssen zunächst Einzelne voranschreiten dürfen.   

Das AOK-Positionspapier hat ja einige Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) auf die Barrikade getrieben. Sie scheinen sich zu sorgen, dass sie mit dieser freien regionalen Gestaltung überflüssig werden…  

So ist das Positionspapier allerdings nicht zu lesen. Es adressiert sämtliche Problemstellungen innerhalb einer Region. Und nicht immer haben wir ein Problem, für dessen Lösung die Einbindung einer KV zwingend erforderlich ist, wie beispielsweise bei der Pflege. Doch lassen Sie mich bitte deutlich machen: Zur Lösung struktureller Probleme, insbesondere wenn es um die Ambulantisierung sonst stationärer Fälle geht, ist eine gute Zusammenarbeit mit einer KV ein erfolgskritischer Faktor. In Brandenburg beispielsweise haben wir viele Dinge gemeinsam mit der KV vorangebracht und werden auch zukünftig eng zusammen an den Versorgungsproblemen im Land arbeiten.   

Aktuell ist der AOK-Vorschlag leider nicht in das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) eingeflossen…  

Noch ist die Messe nicht gesungen. Das GVSG ist ja zunächst einmal vom Gesetzgeber entwickelt worden. Dann wurde ein Teil gekürzt. Die gekürzte Version wurde in den Gesetzgebungsprozess eingesteuert und dabei sind genau die zentralen Punkte rausgeflogen: Gesundheitskioske, Gesundheitsregionen, Primärversorgungszentren. Nach der Initiative des Bundesrats sind alle drei Punkte glücklicherweise wieder aufgenommen worden. Und jetzt warten wir den parlamentarischen Prozess nach der Sommerpause ab.  

Welche Erfahrungen hat die AOK Nordost in das Papier eingebracht?  

Als AOK Nordost waren wir an der Erstellung maßgeblich beteiligt und konnten unsere Erkenntnisse einbringen, die wir beispielsweise aus dem Innovationsfondsprojekt „IGiB-StimMT – Strukturmigration im Mittelbereich Templin“ gesammelt haben. Zunächst einmal ist es wichtig, Partner zu haben, die veränderungsbereit sind und sich entsprechend einsetzen. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn wir mithilfe der neuen Rechtsgrundlage zukünftig als Einzelkasse den Anfang machen und vorangehen können. Und wir haben gelernt, dass alle Beteiligten von Anfang an in dem Prozess mitgenommen werden müssen. Sie sollten wissen, wohin die Reise geht und wie der Weg dorthin aussieht. Dann ist es viel einfacher, etwas umzusetzen.   

Können Sie das noch einmal näher erläutern?   

Wenn wir eine Veränderung anstreben, ist es für Kommune und Bevölkerung wichtig, zu wissen, dass es einen Plan gibt. Das nennen wir die gesteuerte Strukturmigration. Wir wissen, wie es heute aussieht und wir wissen, wie es zukünftig aussehen soll, welchen Bedarf es geben wird. Und welcher Weg von A nach B zu gehen ist.   

Haben Sie dafür ein Beispiel?  

Wenn die Schließung eines Krankenhauses oder einer Station im Raum steht, dann kann das eine fatale Signalwirkung haben. Die Leute fragen sich: Wo soll ich hin, wenn es mir schlecht geht? Wenn ich einen Notfall habe? Wo soll ich mit meinem kranken Kind hin? Jeder Kommunalpolitiker und jede Bürgermeisterin geht reflexartig auf die Barrikaden und sagt: Arbeitsplätze gehen verloren, Jobs und Wirtschaftskraft sind weg. Und wenn man nur auf das Krankenhaus blickt, dann sieht das auf den ersten Blick wirklich so aus. Aber vielleicht macht eine Verlagerung zur ambulanten Versorgung oder in Richtung Pflege Sinn.  

Schauen wir uns den Nordosten an: Wir werden flächendeckend mit einem deutlichen Anstieg an Pflegebedürftigen in den nächsten Jahren rechnen müssen. Dann benötigen wir mehr stationäre Pflegeeinrichtungen oder alternative Modelle. Die müssen aber auch erst einmal aufgebaut werden. Wenn also ein Krankenhaus wegfällt, könnte man überlegen, ob man das nicht beispielsweise als Pflegeeinrichtung weiter nutzen kann. Aber vor allem müssen wir uns Gedanken machen, wie eine Versorgungsalternative aussieht. Diese Alternativstrukturen müssen parallel zu einer Veränderung der stationären Versorgung aufgebaut werden. Das ist der Unterschied zur kalten Strukturmigration, wo wirtschaftliche Gegebenheiten dazu führen, dass unkontrolliert irgendwas passiert. Deshalb müssen wir jetzt aktiv steuern, damit wir nicht perspektivisch an vielen Ecken eine kalte Strukturmigration erleben.   

Wer soll das denn steuern? Wollen wir hier Treiber sein?   

Wir sind eine regionale Krankenkasse und haben jetzt schon gemeinsam mit dem 90a-Gremium in Brandenburg – dort sitzen Vertreter des Landes, der Kassenärztlichen Vereinigung, der Krankenkassen im Land, der Landeskrankenhausgesellschaft sowie weitere Beteiligte – massiv daran gearbeitet, dass in Brandenburg der Versorgungsbedarf durch unabhängige Institute wissenschaftlich analysiert wird. Und auch bei der Entwicklung dieses Positionspapiers waren wir von Beginn an maßgeblich beteiligt. Wir haben also diese Treiberfunktion in den letzten Jahren schon eingenommen.     

Wie spielt die Krankenhausreform bei alldem mit rein?   

Die Krankenhausreform ist hauptsächlich auf den stationären Sektor ausgerichtet. Idealerweise wäre die Krankenhausreform jedoch besser eine Gesundheitsreform, wo alle Stufen gleichermaßen betrachtet werden und eine Entscheidung darüber getroffen wird, wie eine übergreifende, sektorenunabhängige Versorgung aussehen kann: mit Krankenhaus und Rehabilitationseinrichtung, mit ambulanter Versorgung, mit Pflege, mit Heil- und Hilfsmitteln und so weiter.   

Warum ist sie es dann nicht?   

Schon die Krankenhausreform ist eine echte Herausforderung. Bei einer übergreifenden Gesundheitsreform hätte sich Minister Lauterbach mit allen Lobbygruppen der Gesundheitspolitik auseinandersetzen müssen. Insofern glaube ich, dass er gar nicht anders konnte, als das Thema Krankenhausversorgung jetzt zuerst anzufassen. Trotzdem: Wenn Krankenhausstrukturen sich verändern, muss man überlegen, was dann die entsprechenden Strukturen auf der ambulanten Seite sind und wie sich die Veränderungen auf sie auswirken. Es ist ein zentrales Anliegen der AOK Nordost, sich darum zu kümmern. 


Hinweis an die Redaktionen: Sie können diesen Beitrag gerne vollständig oder auszugsweise für Ihre Berichterstattung nutzen. Bei weiteren Fragen zum Thema wenden Sie sich bitte an die Pressestelle der AOK Nordost: presse@nordost.aok.de

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