Knapp drei von vier Arzneimitteln werden in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern inzwischen per E-Rezept verordnet – und auch Seniorinnen und Senioren kommen mit dem E-Rezept offenbar gut zurecht. Das zeigt eine aktuelle Datenanalyse der AOK Nordost. Was noch zu tun ist, um auch das letzte Viertel Papier-Rezepte abzuschaffen, erläutert E-Rezept-Experte Ulrich Henning im Interview.
Ulrich Henning, Sie waren dabei, als deutschlandweit eines der ersten E-Rezepte in einer Berliner Arztpraxis versendet wurde. Das war vor drei Jahren im Rahmen des E-Rezept Pilotprojekts in der „Zukunftsregion Digitale Gesundheit“.
Ja, ich erinnere mich noch gut daran. Das war ein aufregender Moment, als das erste E-Rezept durchging. Und jetzt verarbeiten allein wir als AOK Nordost pro Monat rund eine Million E-Rezepte unserer Versicherten.
Bis dahin war es ein langer Weg. Die Einführung des E-Rezepts musste mehrmals verschoben werden. Erst seit Anfang dieses Jahres sind Ärztinnen und Ärzte verpflichtet, E-Rezepte statt Papierrezepte zu verordnen. Warum ist die Umstellung auf das E-Rezept komplexer gewesen als ursprünglich angenommen wurde?
Dabei muss man sicher die politische und die fachliche Sicht trennen. Es gab auf Seiten der Politik doch andere Erwartungen als auf fachlicher Seite. Die E-Rezept-Einführung ist ein sehr großes Digitalisierungsprojekt gewesen, an dem unter anderem über hundert Hersteller beteiligt waren, die Ärzten und Apotheken die Software zur Verarbeitung der E-Rezepte zur Verfügung stellen. Diese Hersteller mussten Themen bearbeiten und priorisieren, so dass die Software rechtzeitig allen zur Verfügung steht – und das in der Situation, in der die Fachkräfte und Ressourcen dieser Unternehmen begrenzt sind. Das hat man schon deutlich gespürt.
Zudem hat sich in den Arztpraxen gezeigt, dass der ursprüngliche Plan, das E-Rezept über Papierausdrucke zu nutzen, nicht wirklich praktikabel war. Und so musste erst die neue Lösung geschaffen und getestet werden, dass E-Rezept über die elektronische Gesundheitskarte zu nutzen. Das hat den Durchbruch gebracht – das ist der Einlöseweg, der jetzt sicherlich zum allergrößten Teil von den Versicherten genutzt wird.
Wer ist eigentlich Ulrich Henning?
Ulrich Henning ist Senior-Verhandler im Bereich Gesundheitslandschaft der AOK Nordost. Er ist seit über zehn Jahren für die Digitalisierung in der Arzneimittelversorgung zuständig.
Was für Vorteile bringt das E-Rezept denn gegenüber dem Papier-Rezept?
E-Rezepte können im Gegensatz zu Papierrezepten nicht verloren gehen und sie sind auch sehr viel fälschungssicherer als Papier-Rezepte. Die richtig großen Vorteile für die Versicherten werden kommen, wenn im kommenden Jahr die elektronische Patientenakte für alle anläuft. Es ist vorgesehen, dass es in der ePA auch eine vollständige Medikationsliste geben wird, in der jeder behandelnder Arzt und auch der Apotheker die gesamte Medikation sehen kann.
In Kombination mit dem E-Rezept wird es dann möglich, unerwünschte Wechselwirkungen zwischen den verordneten Arzneimitteln viel besser zu erkennen, als es jetzt der Fall ist. Mit Unterstützung von ePA und E-Rezept werden die Ärzte und Apotheker künftig einen fast vollständige Übersicht über die Medikation haben. Aus unserem AOK Nordost-Pilotprojekt „electronic life saver“ wissen wir, dass ein vollständiger Medikationsplan in Kombination mit einer Medikationscheck-Software die Versorgung erheblich verbessern und auch die Sterblichkeit reduzieren kann.
Jetzt sind Sie als „E-Rezept-Experte der ersten Stunde“ sehr tief in unsere Abrechnungsdaten eingestiegen. Wichtigste Erkenntnis: In Berlin lag die E-Rezeptquote im Mai bei 73 Prozent, in MV bei 76 und in Brandenburg sogar bei 79 Prozent. Ist das besser oder schlechter als Sie vorher gedacht haben?
Diese Quote ist sehr erfreulich aus meiner Sicht! Es gab in den ersten Monaten des Jahres zwischendurch die ein oder andere technische Störung. Und auch in einigen Arztpraxen hat es anfangs noch geruckelt – aber nun zeigt sich, dass sich das E-Rezept insgesamt im Praxisalltag bewährt hat.
Mit unserer Datenanalyse können wir das sehr detailliert zeigen, denn wir haben erstmals ganz genau ausgewertet, wieviel Prozent der Arzneimittelpackungen, die derzeit als E-Rezepte verordnet werden können, auch tatsächlich per E-Rezept verordnet wurden.
Der Start des E-Rezepts ist also gelungen – aber am Ziel sind wir noch nicht. Was muss getan werden, um auch das letzte Viertel Papierrezepte abzuschaffen?
Wir sehen in unseren Daten, dass es noch einige Ärztinnen und Ärzte gibt, die das E-Rezept noch gar nicht nutzen. Aber deren Anteil ist im Verlauf der Monate gesunken, so dass man optimistisch sein kann, dass sich das mit der Zeit bereinigt.
Der größere Teil der Papierrezepte – Zwei-Drittel, um genau zu sein – wurde im Mai von Ärzten ausgestellt, die das E-Rezept sonst nutzen. Der Grund können kurzzeitige Störungen in der Telematik-Infrastruktur und in den Praxisverwaltungssystemen sein. Wenn es morgens in der Praxis da irgendwo hakt – und sei es nur für einige Minuten – schafft das Misstrauen und das E-Rezept wird an dem Tag vielleicht gar nicht wieder probiert. Dazu passt, dass bei Packungsgrößen für die Akutversorgung die E-Rezept-Quote geringer ist. Durch eine zunehmende technische Stabilität muss das Vertrauen gestärkt werden, das E-Rezept in allen Versorgungssituationen einsetzen zu können.
Eine geringere E-Rezeptquote gibt es insgesamt bei Kindern und Jugendlichen. Hier funktioniert der Einlöseweg über die Gesundheitskarte offenbar nicht immer gut – weil zum Beispiel der Vater mit dem Kind zur Kinderärztin geht, die Mutter aber die Karte mit zur Arbeit genommen hat. Dann muss das Papierrezept genutzt werden. Auch bei pflegebedürftigen Personen sehen wir eine geringere E-Rezeptquote. Hier wissen wir durch Feedback von ambulanten Pflegediensten und Pflegeheimen, dass die Gesundheitskarte der Versicherten nicht immer verfügbar ist, um das E-Rezept einzulösen. Für diese Themen werden nun Lösungen gesucht oder sind schon in Planung, um die E-Rezept-Quote weiter zu verbessern.
Erstaunlich ist auf den ersten Blick, dass ausgerechnet Seniorinnen und Senioren die „Power-User“ beim E-Rezept sind. Was ist dafür die Erklärung?
Das liegt daran, dass Menschen in dieser Altersgruppe insgesamt die meisten Arzneimittel bekommen. Auch der Anteil an Dauermedikation ist laut unseren Abrechnungsdaten sehr hoch, denn viele ältere Menschen müssen ja regelmäßig Medikamente einnehmen.
Und bei solcher Dauermedikation ist die E-Rezeptquote mit bis zu 80 Prozent höher als bei akut verordneten Medikamenten wie zum Beispiel Antibiotika. Ein Asthmatiker zum Beispiel, der alle drei Monate neues Asthmaspray braucht, braucht jetzt nur noch in der Praxis anrufen und darum zu bitten, dass ihm das neue Rezept „auf die Karte geladen wird“, wie es umgangssprachlich oft heißt. Anschließend kann er direkt zur Apotheke gehen, muss nur seine Gesundheitskarte vorzeigen und bekommt sein neues Spray.
Dass die Quote bei der Dauermedikation so hoch ist, spricht dafür, dass sich dieser bequeme Einlöseweg, der viele unnötige Arztbesuche erspart, im Praxisalltag schnell etabliert hat.
Und warum wissen wir als AOK Nordost eigentlich so gut Bescheid darüber, wie hoch die E-Rezeptquote in Berlin, Brandenburg und MV ist?
Wir sind die größte Krankenkasse in Berlin, Brandenburg und MV mit insgesamt 1,7 Millionen Versicherten. Das führt dazu, dass wir einen großen Pool an Abrechnungsdaten haben. Allein für den Mai haben wir uns anderthalb Millionen Arzneimittelpackung angeschaut. Und das gibt schon ein sehr gutes Bild für die E-Rezeptquote in der Region.
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