Wegweisende Versorgung für die Waisen der Medizin

Sie werden orphan diseases genannt, die Waisenkinder der Medizin – seltene Erkrankungen, an denen höchstens fünf von zehntausend Menschen leiden. Lange Zeit fristeten sie ein sowohl von der Forschung als auch von der allgemeinen Öffentlichkeit unbeachtetes Schattendasein. Zum großen Leidwesen aller davon Betroffenen und deren Angehörigen. Mittlerweile wird weltweit daran gearbeitet, die Seltenen Erkrankungen stärker ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. In Deutschland wurde dazu 2010 das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) ins Leben gerufen. Auch die AOK Nordost möchte Menschen mit seltenen Erkrankungen unterstützen.   

Mit einem strukturierten Diagnostikprozess schnell zu einer klaren Diagnose kommen 

Die Gesundheitskasse hat ihr Engagement auf diesem Gebiet als Partnerin in dem vom Gemeinsamen Bundesausschuss geförderten Innovationsfondsprojekt TranslateNAMSE begonnen. In dem von der Charité – Universitätsmedizin geleiteten Projekt ging es im Kern darum, einen bundesweit einheitlichen strukturierten Diagnostikprozess zu etablieren. Das Ziel: für Patientinnen und Patienten mit unklarer Diagnose und dringendem Verdacht auf eine Seltene Erkrankung eine klare Diagnose zu finden.  

Die vorläufigen Projektergebnisse aus TranslateNAMSE zeigen, dass durch die Bündelung der Expertise von spezialisierten Ärztinnen und Ärzten verschiedener Fachrichtungen auf der einen und den gezielten Einsatz von Diagnostik und genetischen Untersuchungen auf der anderen Seite wesentlich schneller als bisher eine endgültige Diagnose gestellt werden kann. In der Folge wird dadurch weitere unspezifische Diagnostik überflüssig und – wo dies möglich ist – kann eine gezielte Behandlung erfolgen.   

Die zermürbende Schleife an unspezifischen Untersuchungen durchbrechen  

Besonders wenn Kinder betroffen sind, wollen die Familien wissen: Worauf müssen wir uns einstellen?

Marek Rydzewski, Bereichsleiter Versorgungsmanagement der AOK Nordost

„In vielen Fällen machen die Betroffenen ein wahres Martyrium durch. Sie leiden nicht nur unter der Krankheit und aufreibenden Odysseen von Arzt zu Arzt, sondern auch unter der quälenden Ungewissheit, was noch auf sie zukommt“, sagt Marek Rydzewski, Bereichsleiter Versorgungsmanagement der AOK Nordost. „Wir wollen den Betroffenen Gewissheit und damit eine Perspektive geben“, so Rydzewski. „Das ist besonders wichtig, wenn Kinder an einer solchen Erkrankung leiden. Die Familien wollen wissen: Was bedeutet die Erkrankung für den Alltag? Was geht, was geht nicht? Worauf müssen wir uns perspektivisch einstellen?“  

Um die zermürbende Schleife der sich wiederholenden unspezifischen Untersuchungen zu unterbrechen, soll der in TranslateNAMSE erfolgreich erprobte strukturierte Diagnostikprozess im normalen Versorgungsalltag etabliert und verstetigt werden – damit alle Betroffenen davon profitieren. Als erste Krankenkasse hat die AOK Nordost deshalb einen Versorgungsvertrag mit der Charité – Universitätsmedizin abgeschlossen. Das Besondere an dem Vertrag ist die Zusammenarbeit der verschiedenen Fachrichtungen und bei Bedarf die Einbindung eines deutschlandweit und international aufgestellten Netzwerks an Experten, die sich seit Jahren mit diesem besonderen Themengebiet befassen und kontinuierlich im Austausch miteinander stehen.   

Hohe Qualitätsanforderungen bei Gensequenzierungen  

Häufig sind Genmutationen die Ursache für die Erkrankung. „Im Vertrag arbeiten Genetiker mit Ärzten aus verschiedenen Fachdisziplinen gemeinsam daran, die ursächlichen Mutationen zu identifizieren, die das Beschwerdebild des Patienten erklären”, erläutert Professor Stefan Mundlos von der Charité. Hierzu werde eine Analyse aller Gene, eine sogenannte Exomsequenzierung, vorgenommen. “Oft lassen sich so Diagnosen stellen, manchmal existieren schon Beschreibungen zu den Erkrankungen, manchmal handelt es sich um völlig neue. Je nachdem, was man darüber schon weiß, kann man die Patienten symptomatisch oder ursächlich behandeln”, so Mundlos. 

Für die AOK Nordost ist dabei zwingend notwendig, dass hohe Qualitätsanforderungen an die Durchführung und Befundung von Gensequenzierungen gestellt werden. „Es darf nicht sein, dass unerfahrene Behandler umfangreiche Gensequenzierungen veranlassen, deren Ergebnisse dann von Laboren interpretiert werden, die nicht auf die Erkrankungen spezialisiert sind. Daraus resultierende falsche Befunde und falsche Behandlungen verursachen nicht nur immens hohe – vermeidbare – Kosten im Gesundheitssystem. Für die Betroffenen und ihre Angehörigen bedeutet das auch zusätzliches Leid“, so Marek Rydzewski. Der im Februar neu geschlossene Versorgungsvertrag zwischen der AOK Nordost und der Charité legt deshalb auch ein großes Augenmerk auf die besondere Expertise und Qualität der beteiligten Leistungserbringer, die über ein entsprechendes Spezialwissen und Erfahrung mit den unterschiedlichen Ausprägungen und Erscheinungsformen Seltener Erkrankungen verfügen und immer up to date sind, was spezielle Behandlungsmethoden betrifft. 

So läuft es ab 

Ablauf der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Verdacht auf eine Seltene Erkrankung im Rahmen des Vertrags. Graphik: AOK Nordost

Die AOK-Nordost-Versicherten oder ihre Ärztinnen und Ärzte wenden sich an das Zentrum für Seltene Erkrankungen der Charité. Dorthin werden dann alle vorliegenden Befunde übermittelt und von den Experten geprüft. Diese geben eine Rückmeldung, ob wirklich der Verdacht auf eine Seltene Erkrankung besteht oder wohin sich die Patientinnen und Patienten gegebenenfalls wenden können.   

Besteht der Verdacht auf eine Seltene Erkrankung tauscht sich ein Expertenkonsil – eventuell unter Beteiligung der Betroffenen – zu den Befunden aus. Gegebenenfalls werden noch einmal gezielte Untersuchungen veranlasst oder weitere Experten – auch von außerhalb der Charité – hinzugezogen. Sollte dann immer noch keine klare Diagnose vorliegen, wird eine weitere Fallkonferenz zusammen mit Experten aus der Humangenetik durchgeführt. Wenn auch diese Fallkonferenz zu keinem klaren Ergebnis kommt, wird eine genetische Untersuchung, eine sogenannte Exomsequenzierung durchgeführt. Der Humangenetiker wertet dann die Ergebnisse der Untersuchung aus und kommt im positiven Falle zu einer Diagnose. Diese wird in einer Fallkonferenz mit den beteiligten Ärzten besprochen, um gemeinsam zu einer Diagnose und einer sich daraus ergebenden Handlungsempfehlung zu kommen.  

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