Geschützt, aber einsam? Pflegebedürftige und Pflegende in der Corona-Pandemie

Gerade Pflegebedürftige und Pflegeheimbewohnende waren im ersten Lockdown stark von der Corona-Pandemie betroffen. Der Schutz hatte für viele eine Einsamkeit zur Folge.

Frau Dr. Graffmann-Weschke, der aktuelle Pflegereport des Wissenschaftlichen Instituts der AOK widmet sich unter dem Titel „Geschützt, isoliert und einsam? Heimbewohnende und Pflegende während der Pandemie“ den Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf Pflegebedürftige und Pflegende während der ersten Pandemiewelle. Zu welchen Ergebnissen sind die Expertinnen und Experten gekommen?  

Dr. Katharina Graffmann-Weschke, ehemalige Leiterin der AOK Pflege Akademie

Die Bedeutung von pflegenden Angehörigen wurde durch die Corona-Pandemie noch mal viel sichtbarer, denn in ihren Rollen sicherten sie weiterhin die Versorgung von Familienangehörigen, ob alt, jung, krank oder pflegebedürftig. Das konnten wir als Pflegekasse hautnah erleben. In der AOK Pflege Akademie stiegen zum Beispiel die Anfragen zur praktischen Pflege. Manche Familien entschieden sich auch zum Schutz der eigenen Familie gegen die Unterstützung durch Pflegedienste. Problematisch wurde die Situation besonders, als Angehörige nicht mehr zu Besuchen in die Pflegeeinrichtungen kommen konnten. Einige Angehörige waren sehr verzweifelt. Sie übernehmen in den Einrichtungen ja auch tägliche Aufgaben und sind wichtig, um den Pflegebedürftigen die Teilhabe am Alltag zu ermöglichen. Pflegebedürftige, insbesondere mit einer Demenz, konnten es gar nicht verstehen, dass sie sich nicht mehr frei bewegen konnten. Die Familien mussten die Einsamkeit der zu Pflegenden mit ertragen. Aber auch in der Pflegeberatung hat man die Auswirkungen der Corona-Pandemie deutlich gespürt: Während der ersten Welle im März 2020 wurde die komplette Beratung der 74 Pflegestützpunkte in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern auf die telefonische Beratung umgestellt. In Mecklenburg-Vorpommern erlebten die Pflegestützpunkte in den ersten drei Quartalen 2020 rund 3.000 telefonische Kontakte mehr als im Vergleichszeitraum 2019. Es wurde also sehr deutlich, dass der Beratungsbedarf auch oder gerade wegen der Corona-Pandemie sehr hoch war.

Frau Otte, zusammen mit ihren Mitautorinnen haben Sie im Pflegereport in einem Kapitel die „Lebensphasen in Familien und die unterschiedlichen Ursachen der Pflegebedürftigkeit“ beleuchtet. Dabei skizzieren Sie das Case Management. Wieso ist diese Herangehensweise in der Pflegeberatung so wichtig?  

Marina Otte, Bereichsleiterin Case Management der AOK Nordost

Durch das Case Management als Bestandteil der Pflegeberatung kann auf familienbezogene Bedarfslagen in besonderer Weise eingegangen werden. Wir betrachten dazu die individuellen Situationen, Herausforderungen und Bedarfe der einzelnen Familienmitglieder in der Pflegesituation bezogen auf die unterschiedlichen Generationen. Aber nicht nur das Alter spielt hier eine Rolle, sondern auch die Biographie. Eine sucht- und kultursensible Pflegeberatung ist genauso wichtig, um die Bedarfe der einzelnen Familien besser ausloten zu können. Die Pflegeberaterinnen und -berater können so in den einzelnen Fällen gemeinsam mit der betroffenen Person einen Versorgungsplan erarbeiten, der eine Zielvereinbarung und Maßnahmenplanung ermöglicht. Um jeden Fall so intensiv begleiten zu können, benötigen die Pflegeberaterinnen und 
-berater eine gute Qualifikation, aber auch Erfahrung und Engagement. Wir nennen das „Kunst der Bedarfserfassung“ und die will gelernt und geübt sein.

  

Frau Kempchen, wie beeinflusst der Pflegealltag die Lebenssituation aller Beteiligten? 

Anne Kempchen, Teamleiterin Grundlagen Pflegeberatung und Pflegestützpunkte bei der AOK Nordost

Wir können uns Familien wie ein System aus Zahnrädern vorstellen: Bewegt sich eins, hat das Auswirkungen auf die gesamte Familienstruktur. Das trifft insbesondere Familien mit pflegebedürftigen Mitgliedern, in denen das Familienleben meist auf die Bedürfnisse dieser Person ausgerichtet ist. In der Pflegeberatung ist es deswegen wichtig, nicht nur die Situation der Pflegebedürftigen zu sehen, sondern auch die der Familienmitglieder. Wir zeigen, wie heterogen eine pflegende Familie sein kann und dass die Lebenssituation jedes Einzelnen Einfluss auf den Umgang mit dem Thema Pflege in der Familie hat. In der Pflegeberatung müssen wir uns immer wieder neuer Familienstrukturen annehmen, die sensibilisierende und geeignete Weiterbildungen bedürfen, die wir vor allem durch die AOK Pflege Akademie ermöglichen können. Die Pflegeberaterinnen und Pflegeberater sind die Lotsen, die dabei helfen, die richtige Unterstützung zu finden. In diesem Zusammenhang kommt auch die Bedeutung der Nutzung von Netzwerken für diese individuellen Bedarfe zum Tragen, die in den Pflegestützpunkten regional gut ausgebaut ist und alltäglich gelebt wird.  


Empfehlen möchten wir Ihnen auch die digitale Diskussionsveranstaltung „Geschützt, isoliert und einsam? Pflegeheimbewohnende und Pflegepersonal während der Pandemie“ am 29. Juni von 15 Uhr bis 16.30 Uhr.
Es diskutieren: Prof. Dr. phil. Adelheid Kuhlmey, Direktorin des Instituts für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité Berlin, Birgit Pätzmann-Sietas, Deutscher Pflegerat Berlin, Helmut Wallrafen, Sozial-Holding der Stadt Mönchengladbach GmbH und Dr. rer. pol. Antje Schwinger, Leiterin des Forschungsbereichs Pflege im WIdO. Hier geht es zum Livestream


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