Einzelne Verbindungen zwischen der ambulanten und der stationären Versorgung sind geschaffen worden – eine echte systematische Überwindung der Sektorengrenze oder aber die Schaffung einer sektorenunabhängigen Versorgung hat es nicht gegeben. Das ist die traurige Bilanz der vergangenen zwei Jahrzehnte. Wir müssen endlich aufhören, bei Integrierter Versorgung in den engen Grenzen von ambulant und stationär zu denken. Vielmehr muss eine ganzheitliche Vernetzung aller Bereiche stattfinden: neben der ambulanten und stationären Versorgung sind dies die Bereiche Pflege und Prävention sowie auch Palliativversorgung und kommunale Angebote der Gesundheitsförderung.
Integrierte Versorgung erhöht das Patientenwohl
Die Erfahrung vieler Patient:innen macht deutlich, dass es hier nach wie vor erhebliche Verbesserungspotentiale gibt. Medizinisch sinnvolle, eng aufeinanderfolgende Untersuchungstermine bei verschiedenen Ärzt:innen scheinen nach wie vor schwer organisierbar. Die erforderliche Kontinuität der Behandlung ist oftmals nicht gesichert. Bei Krankenhausaufnahmen und -entlassungen hakt es in vielen Fällen bei den Übergängen zwischen niedergelassenen Ärzt:innen und Krankenhäusern. Doppeluntersuchungen und vermeidbare Krankenhausaufenthalte kommen immer noch häufig vor, Defizite in der medizinischen Versorgung Pflegebedürftiger sind an der Tagesordnung. Um nur einige Punkte aufzuführen, die zeigen, wie wichtig eine Integrierte Versorgung für das Patientenwohl ist.
Es ist deshalb zu begrüßen, dass die neue Bundesregierung den „Aufbruch in eine moderne sektorenübergreifende Gesundheits- und Pflegepolitik“ als Ziel formuliert und dass sie die Entwicklung einer sektorenübergreifenden Versorgungsplanung, die Förderung der Ambulantisierung von Krankenhausbehandlungen sowie den Ausbau integrierter Gesundheits- und Notfallzentren nebst einer Förderung durch spezifische Vergütungsstrukturen anstrebt. Bleibt die Frage, wie das Vorhaben konkret umgesetzt wird und wie – angesichts der Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte – die Vertreter:innen der Krankenhäuser, der niedergelassenen Ärzt:innen und der Krankenkassen auf der zentralen Bundesebene diesen Aufbruch wagen wollen.
Es braucht einen echten Wandel
Aus Sicht der AOK Nordost ist es höchste Zeit dafür. Denn die Probleme scheinen sich vom Gestern ins Morgen fortzusetzen. Als die führende regionale Krankenkasse in den drei nordostdeutschen Bundesländern tragen wir die Verantwortung für die Belange unserer Versicherten – sowie in der Folge auch für ihre Arbeitgeber:innen – sowohl im großen Ballungsraum Berlin als auch in dünner besiedelten ländlichen Regionen. Zwar unterscheiden sich die Herausforderungen in beiden Gebieten – aber darauf sind die AOKs schon seit Längerem vorbereitet und beweisen das mit ihrer Initiative Stadt.Land.Gesund.
So hat die Gesundheitskasse im Nordosten bereits vor fünfzehn Jahren begonnen, auf regionaler Ebene Prozesse und Strukturen zu verändern – beispielsweise durch die Entwicklung und Begleitung von zwölf Arztnetzen unter dem Label „Mein AOK-Gesundheitsnetz“. Für die AOK im Nordosten war damals schon klar: Es braucht tiefgreifende Prozess- und Strukturveränderungen, einen echten Change, um eine Gesundheitsversorgung zu erhalten, die auch im ländlichen Raum für alle Versicherten gut erreichbar ist. Dabei soll es zum Beispiel gelingen, die immer rarer werdenden Fachkräfte besser einzusetzen und vermeidbare Krankenhausaufnahmen auch tatsächlich zu vermeiden. Gleichzeitig gilt es, eine Gesundheitsversorgung zu gestalten, die trotz einer immer älter werdenden Bevölkerung und einem damit einhergehenden steigenden Versorgungsanspruch für die Beitragszahler:innen bezahlbar bleibt. 2017 hat die AOK Nordost deshalb gemeinsam mit den Sana Kliniken, der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg und der BARMER das Innovationsfondsprojekt „Strukturmigration im Mittelbereich Templin – StimMT“ auf den Weg gebracht.
Vorschläge für eine regionale Gesundheitsversorgung
Bei diesem Engagement treibt eine Vision die AOK Nordost an. Es ist die Vision einer besser strukturierten, einer echten Integrierten Gesundheitsversorgung. Und die ist zunächst einmal vor allem eines – nämlich regional. Und in dieser Vision sind „ambulant“ und „stationär“ zwei Fremdworte, die irgendwann kaum noch jemand kennt. Weil es diese strikt getrennten Bereiche nicht mehr gibt. Für die AOK Nordost steht dabei nicht zur Debatte, ob diese Vision realisiert werden sollte. Stattdessen haben wir uns die Frage nach dem „Wie“ gestellt. Wer soll zum Beispiel die Verantwortung – sowohl personell als auch finanziell – für eine solche regionale Gesundheitsversorgung tragen? Wie kann sie organisiert sein? Antworten auf diese und andere relevante Fragen geben wir in unserem Zehn-Vorschläge-Papier für eine regionale Gesundheitsversorgung der Zukunft. Dort sind auch unsere Erkenntnisse aus dem Innovationsfondsprojekt StimMT in Templin mit eingeflossen.
So braucht es aus Sicht der AOK Nordost zunächst einmal eine ganzheitliche regionale Versorgungsplanung. Diese sollte bevölkerungsorientiert an den tatsächlichen regionalen Versorgungsbedarfen ausgerichtet und in eine überregionale Versorgungsplanung eingebettet sein. Die Versorgung selbst kann durch einen gemeinsamen regionalen Verbund mit einer Managementkomponente organisiert und über regionale Behandlungspfade umgesetzt werden. Die Organisationsformen und Trägerschaften werden regionenspezifisch entwickelt und ausgestattet: Von Haus- und Fachärzt:innen organisierte Arztnetze können eine gut abgestimmte Versorgung umsetzen und in Verbindung mit einer abgestuften stationären Versorgung sowohl die medizinischen Grundversorgungsbedarfe als auch eine qualitativ hochwertige spezialisierte Versorgung sichern. In Form eines (virtuellen) Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ), in dem sich die Leistungserbringer:innen im Verbund organisieren, kann die Integrierte Versorgung weiter voranschreiten.
Die Finanzierung kann auf einer regionalen Ausgabensteuerung basieren, die sich an dem individuellen Behandlungsbedarf orientiert und von Anfang an das gewünschte Behandlungsergebnis einbezieht. Konkret hat sich im Templiner StimMT-Projekt ein Ambulant-Stationäres-Zentrum (ASZ) herausgebildet, das von einem Konsortium aus dem lokalen Krankenhaus, dem regionalen Arztnetz, der Kassenärztlichen Vereinigung und der Stadt Templin begleitet wird.
Es geht nur gemeinsam und mit dem notwendigen Veränderungswillen
In Templin ist diese Vision einer regionalen Gesundheitsversorgung der Zukunft also schon ein Stück weit Realität geworden. Dabei ist die Umwandlung eines Landkrankenhauses in ein Ambulant-Stationäres-Zentrum (ASZ) aus Sicht der AOK Nordost eine sehr gute Lösung, um Landkrankenhäusern in strukturschwachen Gebieten – in enger Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten – eine wirtschaftlich tragfähige Zukunftsperspektive zu geben. Die Templiner können jetzt zu ihren Ärzt:innen in die Praxen oder in das Ambulant-Stationäre-Zentrum gehen, wenn ihnen etwas fehlt. Dort sollen sie entlang des für sie besten Pfades behandelt werden. In einer sogenannten Decision Unit können Patient:innen in erforderlichen Fällen ein paar Stunden zur medizinischen Beobachtung bleiben, ohne stationär aufgenommen zu werden. Die Ärzt:innen und Therapeut:innen in dem Gesundheitszentrum sind telemedizinisch mit qualifizierten Fachzentren vernetzt, die es vor Ort nicht gibt. So können sie im Bedarfsfall Therapien mit ihnen abstimmen und die Patient:innen können trotzdem weiterhin bei den ihnen vertrauten Ärzt:innen und Therapeut:innen in Behandlung bleiben.
Im Templin-Projekt wurde sehr deutlich, wie außerordentlich wichtig die Einbindung der Beteiligten vor Ort ist: Dazu zählen die Ärzt:innen sowie deren lokale Zusammenschlüsse, das regionale Krankenhaus, die Kassenärztlichen Vereinigungen, die Kommunalpolitik, aber auch die Bürger:innen sowie die Versicherten. Sie alle müssen die notwendige Veränderungsbereitschaft entwickeln, damit ein solch tiefgreifender Change gelingen kann.
Das Potenzial ist da
Inwieweit Templin eine Erfolgsgeschichte wird, hängt jedoch nicht allein von den Handelnden vor Ort ab. Hier bedarf es auch der Unterstützung durch die Landesregierung. Vor allem aber müssen die auf Bundesebene bestehenden gesetzlichen Regelungen dringend weiterentwickelt werden, um bessere Grundlagen für die Fortführung des Ansatzes nach dem Projektende zu schaffen. Denn bisher fehlt ganz einfach der notwendige gesetzliche Spielraum für eine regionale Gesundheitsversorgung. Wenn hier nicht endlich auch die erforderlichen gesetzlichen Regelungen auf Bundesebene geschaffen werden – z. B. durch die Einrichtung von „Freihandelszonen“ für die Vertragspartner mit entsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten der rechtlichen Bedingungen und der Möglichkeit regionaler Ausgabensteuerungen – bleibt die geschilderte Vision eben nur eine Vision.
Genauso bin ich aber davon überzeugt, dass wir mit einer „Allianz der Willigen“ aus Politik, Selbstverwaltung, Krankenkassen und allen voran natürlich den Partner:innen aus Medizin und Pflege viel bewegen können. Das Potenzial ist da. Templin hat das eindrücklich gezeigt und auch den Innovationsauschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss überzeugt. Sein Beschluss vom 1. April 2022 stellt die Frage an die Akteure der Selbstverwaltung, inwiefern die Ansätze zur Weiterentwicklung der bedarfsgerechten Versorgung in ländlichen und/oder strukturschwachen Regionen genutzt werden können. Der G-BA leitet die Erkenntnisse auch an die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände – also letztlich an die Landräte und Bürgermeister – weiter und bittet darüber hinaus das Bundesgesundheitsministerium, zu prüfen, wie entsprechende rechtliche Anpassungen vorgenommen werden können. Sollte dies nicht ein lautes Signal für eine besser integrierte Versorgung durch Gesundheitsregionen sein?
Dieser Beitrag von Daniela Teichert ist zuerst in der Zeitschrift iX-Forum erschienen. Die 2. Ausgabe 2022 des Magazins entstand in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Integrierte Versorgung und widmet sich dem Thema „Integrierte Versorgung – Überwinden wir endlich die Sektorengrenzen?“. Das Magazin kann nach Darstellung des Verlages auch als ein Arbeitsauftrag für die Bundesregierung verstanden werden. Das vollständige Heft befindet sich auf dieser Seite als PDF.