Gerechte Gesundheitsversorgung – konkrete Zukunftschance oder bloße Utopie?

Als „Jahrhundertchance“ bezeichnet Prof. Dr. Stefan Heinemann die Entwicklungen im Gesundheitswesen hin zu einer wirklich gerechten Gesundheitsgesellschaft. Im Interview spricht der KI-Experte und Theologe sowie Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats für Digitale Transformation der AOK Nordost über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Der Wissenschaftler erklärt, warum wirtschaftlich und gerecht zusammen gehen kann, warum KI wichtiger wird und warum jede Veränderung die Menschen mitnehmen muss.

Herr Heinemann, Sie sind Ethiker, beschäftigen sich aber auch mit der Ökonomie, den Geschäftsmodellen, digitalen Technologien und Risiken – insbesondere im Gesundheitswesen. Ist Ihrer Meinung nach eine gerechte Gesundheitsversorgung überhaupt ökonomisch machbar?

Sie fangen direkt mit so einer einfachen Frage an. Man kann relativ gut erklären, was ökonomisch wohl bedeuten soll: Wir haben entgrenzte Bedürfnisse, aber nur knappe Ressourcen. Immer wenn beides zusammenkommt, stehen wir offenkundig vor einer grundsätzlichen Herausforderung. Dieser Zusammenhang scheint für unsere Gesundheit auch eine entscheidende Rolle zu spielen. Denn wir sind alle sterblich, wollen aber ewig leben. Die knappste und nicht so einfach produzierbare Ressource, nämlich die eigentliche Lebenszeit, hängt darüber hinaus mit einer für uns subjektiv empfundenen biografischen Qualität unseres Lebens als „lebenswert“ zusammen, die selber wieder deutlich mit unserer Gesundheit zu tun hat. Hier geht es uns allen um alles. In diesem Spannungsfeld ist so etwas wie Gerechtigkeit gar nicht leicht zu haben.

Geht es um Gerechtigkeit oder um Gleichheit? Gleichheit ist ein wichtiger Wert, aber es ist nicht der einzige. Und Gerechtigkeit ist eben noch mehr als Gleichheit. Gerechtigkeit ist sozusagen eine nicht-gleichmacherische Gleichheit. Was durchaus ein Problem aufwirft: Wie kann man ohne einen logischen Zirkelschluss bestimmen, was denn an der Gleichheit gerecht sei, also: wer denn nun gleich sei, wem welche Rechte, Güter und so weiter zuzuschreiben, zu geben wären? Aristoteles Grundsatz proportionaler Gleichheit – er unterscheidet bekanntlich zwischen austeilender und ausgleichender Gerechtigkeit – setzt voraus, dass es ein Maß für die zu berücksichtigenden Unterschiedlichkeiten der Beteiligten gäbe, was bei der entsprechend gerechten Verteilung maßgeblich wäre. Will sagen: Ganz trivial ist das mit der Gerechtigkeit auch philosophisch nicht.

Prof. Dr. Stefan Heinemann ist Professor für Wirtschaftsethik an der FOM Hochschule und fokussiert die ökonomische und ethische Perspektive auf die digitale Medizin und Gesundheitswirtschaft. Er ist Leiter der Forschungsgruppe „Ethik der digitalen Gesundheitswirtschaft & Medizin“ am ifgs Institut für Gesundheit & Soziales der FOM Hochschule, Sprecher der Ethik-Ellipse Smart Hospital der Universitätsmedizin Essen sowie Fachbeirat in diversen Forschungs- und Bildungsinstitutionen. Prof. Dr. Heinemann ist zudem u. a. Mitglied im Vorstand der Kölner Wissenschaftsrunde, Vorstandsvorsitzender der „Wissenschaftsstadt Essen“ und Mitglied im Kuratorium von sneep e. V., einem studentischen Netzwerk für Wirtschafts- und Unternehmensethik. Zudem ist der Philosoph und Theologe Mitglied im Beirat des Institutes für PatientenErleben der Universitätsmedizin Essen und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der AOK Nordost.

Ökonomie als solche ist allerdings nicht per se unethisch oder ungerecht – sie hat sich allerdings vor dem Sittengesetz zu verantworten. Das Moralische ist unhintergehbar. Es kommt daher freilich immer darauf an, was man entscheidet und letztlich tut. Also wenn man jetzt zum Beispiel als Kasse effizient wirtschaftet, dann ist das erst mal eine gute Sache, da verschwendete Euros nicht mehr für die wichtigen Ausgaben zur Verfügung stehen. Mit der Betriebswirtschaftslehre als Anwendungsgestalt ökonomischer Einsichten lässt sich gleichsam als Zielerreichungstechnik viel Gutes anstellen, aber auch das Gegenteil davon. Daher tragen wir auch als moralische Akteure die Verantwortung für die Gestaltung eines entsprechend ethisch ausgewiesenen Gesundheitswesens. Gleichzeitig finanzierbar und gerecht, das ist eine Spannung, die sich vielleicht genau dann ein wenig auflöst, wenn man sich klarmacht, dass alles, was wir an gerechten Ideen entwickeln, eigentlich auch wirtschaftlich erfolgreich sein sollte – in the long run. Man sollte und darf darauf vertrauen, dass der Einsatz für solche Kernüberzeugungen wie Gerechtigkeit und Solidarität auch wirtschaftlich funktioniert und dass andersherum ein wirtschaftliches, kluges Handeln auch ethisch klug handelt.

Wirtschaftliches Handeln ist wichtig, aber es geht doch immer auch um Menschen…

In der Gesundheitswirtschaft sind Super-Return-Modelle monetärer Art fehl am Platz – „Gewinnmaximierung“ ist etwas anderes als eine „Gewinnerzielungsabsicht“, die auf Menschen und Umwelt abstellt. Nur gute Geschäfte sind eben auch gut. Für die Gesundheitswirtschaft gilt dies erstrangig: Das Wichtigste ist der Mensch und sein erstrangiges Anliegen, gesund zu werden und gesund zu bleiben. Wichtig ist dabei, dass auch die Mitarbeitenden in diesem System dem individuellen Menschen gerecht werden und angemessen ihre Profession ausüben können. Das war und ist zentral und muss auch zentral bleiben. Wenn man sich ehrlich macht, wird man allerdings nur in Teilen eine Beschreibung erkennen. Vieles ist ein bloßer Wunsch – unser Gesundheitssystem wie es ist, ist eben nicht durchgehend gerecht und gut. Sondern es erhält seine moralische Qualität aus dem existentiellen Engagement von Millionen professionellen Akteurinnen und Akteuren und noch viel mehr Patientinnen und Patienten und Angehörigen. Das feine Zusammenspiel, nicht gerade marktradikal zu sein, aber auch nicht einen Gesundheitsstaatssozialismus zu fördern, ist nach wie vor ein durchaus kluger Weg. Er bedeutet aber auch wahnsinnig viel Komplexität. Selbstverwaltung kostet Zeit.

Aber wir können noch mehr Wert darauf legen, dass denjenigen mit Barrieren, wie ihrem sozialen Hintergrund, Alter oder ihren Sprachkenntnissen, ein Zugang zu gerechter Versorgung ermöglicht wird. Darf zu diesen Barrieren auch die Kaufkraft zählen? Was wir nicht wollen sollen, ist eine Privilegierten-Medizin oder eine Privilegierten-Versorgung. Es muss schon möglich sein, für alle Menschen das Beste zu tun, dem Grunde nach. Ich glaube sehr wohl daran, dass wir eine gerechte Gesundheitswirtschaft im 21. Jahrhundert noch werden erreichen können. Und ich sage bewusst Gesundheitswirtschaft, weil die Wirtschaft ein wesentlicher Teil davon sein muss. Auch wenn, dessen bin ich mir bewusst, gerade die ebenso notwendige Einbindung digitaler Hochtechnologien wie KI, da jene auf analogen Prinzipien beruhen wie die Ökonomie, durchaus eine unheilvolle Entwicklung Richtung Dehumanisierung und sogar Deprofessionalisierung mit sich bringen könnte, ist AI-Detox keine Option für das Gesundheitswesen.

Das derzeitige Gesundheitssystem bewegt sich im Spannungsfeld zwischen ständigem Geldmangel und Personalnot auf der einen Seite und dem Anspruch an eine gute und nachhaltige Versorgung auf der anderen Seite. Welche Rolle spielt Digitalisierung dabei, das Gesundheitssystem zukunftsgerichtet aufzustellen?

Digitalisierung, ja Hochdigitalisierung wie KI ist genau das, was wir jetzt dringend brauchen, wenn wir überhaupt noch eine Chance haben wollen. Auch wenn es relevante Risiken gibt, mit denen umzugehen ist. Das ist das Narrativ oder die Antwort, die man erwartet. Und das ist auf der deskriptiven Ebene zunächst einmal richtig. Es ist klar, dass wir Flächenländer in Zukunft nicht solide werden versorgen können, wenn wir auf die Versorgung durch reale Personen setzen, die durch das Land fahren und die Menschen vor Ort aufsuchen. Das wird in der medizinischen Versorgung und in der Pflege sehr schwer machbar sein. Genau wie eine smarte, hochskalierte Datennutzung, die Bedingung der Möglichkeit hochwirksamer und sicherer Medizin und Versorgung, bedeuten wird: tiefe Heilung. Digitalisierung ist wichtig, weil sie uns bei solchen Punkten hilft und weil präziser eben in der Regel besser heißt. So können wir technisch präziser werden, weil wir die Daten haben und weil wir auch die Algorithmen haben, um daraus etwas zu machen. Das findet sich vor allem in Prävention, in Diagnostik, aber auch zunehmend in Therapie und in Nachsorge. Das ist die eine Seite, die viel diskutiert und auch bereits in Teilen umgesetzt wird.

Wir brauchen aber auch so etwas wie eine soziale Präzision. Wir müssen natürlich auch verstehen, wie wir die Menschen damit erreichen. Man muss den Versicherten, den Patientinnen und Patienten auch den Nutzen erklären, Sorgen nehmen, aber auch über Risiken klar aufklären. Der Mensch als wesentlicher Bestandteil dieser Entwicklung muss noch deutlich stärker in den Blick genommen werden. Sonst gerät er eben aus dem Blick – mit der Konsequenz, dass wir an Maschinen gemessen werden, nicht andersherum.

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KI und Co. bringen gewiss Effizienz und Effektivität ins System und sogar Qualität und Nachhaltigkeit. Der Trade-Off zwischen Qualität und Kosten lässt sich so durchaus mildern. Auch eine gerechte Verteilung von medizinischen Leistungen kann ohne Kostenexplosion so besser gelingen. Eine „Ökonomisierung“ des Gesundheitssystems, vor der auch Herr Minister Lauterbach immer wieder warnt, bis hin zum diskutierten Verbot von integrierten medizinischen Versorgungszentren, ist genau dann zu kritisieren, wenn damit gemeint ist, dass wirtschaftliches Denken als primäres Denken zu sehen ist. Was unethisch wäre – aber nicht, weil eben Investoren immer böse und Return-On-Investment (ROI) immer schlecht wäre, sondern, weil nichts wichtiger als Ethik sein kann. Gegen moralisch verantwortliche Geschäftsmodelle spricht wenig. Sie können helfen, unverantwortlichen Modellen Konkurrenz zu machen. Es ist so darauf zu achten, dass das Gut Gesundheit nicht zur Ware verkommt, aber auch nicht temperierte Marktmechanismen verunmöglicht werden und so Rationierung noch eher zum Problem wird, als es Rationalisierung würde. Hier kommt gerade den gesetzlichen Krankenversicherungen eine wichtige Systemfunktion zu: Gemeinwohl und digitale, innovative und effiziente Organisation schließen sich nicht aus, sondern ein. Gerade eben weil Ökonomie und Ethik zwar nicht identisch, aber auch keine zwei letzten Welten sind.

Im aktuellen Positionspapier fordern Sie als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der AOK Nordost einen „Turbo für die Digitalisierung des Gesundheitswesens“. Warum kommt Deutschland hier nur so langsam voran?

Es hilft eigentlich nichts zu sagen „Der Gesetzgeber ist schuld, weil er immer zu langsam ist.“ Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz ist durchaus ein Signal, die Nutzung von Gesundheitsdaten gemeinwohlorientiert anzulegen und datenbasiert weiterzuentwickeln. Insgesamt geht das in die richtige Richtung. Aber es muss eben jetzt auch schnell passieren, weil wir sonst den Zugang zu den Menschen verlieren. Den benötigen wir aber, damit die Menschen diese neuen guten digitalen Wege auch akzeptieren. Wenn es heißt: „Deutschland kommt schleppend voran und es ist alles immer ganz furchtbar. Die Fahrstühle gehen nicht, die Bahn fährt nicht, die Schule ist irgendwie schlecht, die Gesellschaft gespalten, das Gesundheitssystem kannst Du gleich ganz vergessen, wir sind die Analogrepubik, …“- alles ganz furchtbar. Also, da kriege ich schlechte Laune. Der Optimist denkt, wir leben in der besten aller möglichen Welten, der Pessimist hat Sorge, er könnte recht haben.

Richtig ist: Wir haben in Deutschland nicht mehr viel Zeit, zu vieles ist auf Kante genäht. Wir sollten positiv nach vorne blicken und auf das schauen, was gelingt. Wir haben Gesetzesvorhaben, die gehen nach vorne, wir haben Leute in den Ministerien, die anpacken wollen. Wir haben gute Leute in der Gesundheitswirtschaft und auf der medizinischen Ebene. Und wir haben eine tolle Forschung. Da geht schon was voran. Wir haben gute Leute im System, wir haben ein funktionierendes System. Wir müssen nur wirklich offener sein für diese oft durchaus anstrengenden Veränderungen. Wir müssen uns mal was trauen. Erfolg hat drei Buchstaben: TUN, aber auch MUT. Wir müssen mutig sein. Die Politik sollte sich trauen und mal etwas ausprobieren, auch wenn es vielleicht hinterher falsch ist. Wir müssen jetzt auch mal Fehler riskieren. Für Grübeln und Überlegen, Bedenken und Rumeiern ist wirklich keine Zeit mehr.

Einen riesigen Schritt voran in Sachen Digitalisierung macht derzeit der Einsatz von künstlicher Intelligenz. Im Gesundheitswesen wird sie aber noch skeptisch beäugt. Welche Chancen und welche Risiken bietet KI im Gesundheitswesen?

Der Mensch muss auch in Sachen KI im Mittelpunkt stehen. Deshalb sollten wir hart daran arbeiten, dass eine künstliche Intelligenz verstehbar wird. Nicht im Detail, aber auf der Anwendungsebene. Was kann künstliche Intelligenz überhaupt? Was nützt ihr Einsatz in der Medizin? Wo liegen die Risiken? Wir dürfen nicht noch mehr von dieser Entwicklung überrannt werden. Das ist viel entscheidender, als pauschal zu bewerten: KI ist gut oder schlecht? Aber: Ein Stethoskop betreibt keine Medizin, eine KI schon, wenn wir sie lassen – nie in der Geschichte der Medizin war ein Instrument mächtiger und nie war es weniger Instrument.
Es gibt folglich für die ganzen Vorgänge keine erprobte kulturelle Praxis. Wir haben da nichts, worauf wir referenzieren könnten und sagen „Okay, das hatten wir schon mal so ähnlich.“ Nein, wir hatten es nicht, auch nicht so ähnlich. Künstliche Intelligenz ist nicht nur einfach ein schnelleres, besseres Computing. Nein, es ist etwas strukturell, qualitativ und sogar etwas wesenhaft Anderes.

I have a dream: Wir haben die Daten und wir haben das Vertrauen der Menschen, sie auch in das System zu geben. Und wir machen damit das Richtige, nämlich am Ende eine bessere Medizin. Das kann uns gelingen. Aber nur dann, wenn man es schafft, die Menschen vernünftig mitzunehmen. Nehmen wir die Menschen dabei aber nicht mit, dann haben wir am Ende wahrscheinlich das, was wir vorher schon hatten, nur ganz hoch digitalisiert. Wenn wir einen schlechten analogen Prozess einfach nur digitalisieren, dann ist noch keinem geholfen. Vielmehr benötigen wir neue Wege der Ansprache. Sonst haben wir am Ende einen echten Bruch in der Gesellschaft mit Menschen, die es sich leisten können und Menschen, die es sich nicht leisten können. Mit Menschen, die es verstehen und die es nicht verstehen. Wir haben eine Jahrhundertchance, jetzt mit einer Hochtechnologie konsequent das Richtige zu tun. Diese Chance müssen wir wirklich nutzen, um in eine gerechte Gesundheitsgesellschaft im 21. Jahrhundert hineinzuwachsen. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung.

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