„Digitalisierung darf nicht zu seelenloser Effizienz führen“

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Frau Bergen, sie sind Sprecherin des Wissenschaftlichen Beirats für Digitale Transformation der AOK Nordost. Dieser interdisziplinär besetzte Beirat hat nun das Impulspapier „Digitale Effizienz, menschliche Nähe“ vorgelegt. Es enthält Forderungen an die kommende Bundesregierung, um die Digitalisierung des Gesundheitswesen weiter voranzutreiben. Was ist denn die wichtigste Forderung?

Die wichtigste Forderung ist, erst mal die Haltung zu verändern und Daten und Digitalisierung wirklich als Chance zu sehen, das Gesundheitswesen und die Medizin zu verbessern. Wir fordern, dass die Digitalisierung genutzt wird, um die Nähe zum Menschen im Gesundheitswesen wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Digitalisierung darf nicht zu seelenloser Effizienz im Gesundheitswesen führen. Sie muss die Beschäftigten in den Gesundheitsberufen entlasten und die individuelle Lebensqualität der Patientinnen und Patienten verbessern. Wir müssen eine Infrastruktur hinbekommen, die das eben auch flächendeckend ermöglicht, in ganz Deutschland für alle Teilnehmer im System. Zudem müssen wir die Digitalkompetenz verbessern, damit alle Bürgerinnen und Bürger, aber auch alle Mitarbeitenden im Gesundheitssystem die Digitalisierung wirklich auch nutzen können.

Gesundheitsminister Jens Spahn hat die Digitalisierung des Gesundheitswesens bereits in der ablaufenden Legislaturperiode zur Chefsache gemacht. Wie groß war denn der Sprung, den Deutschland dadurch nach vorn gemacht hat?

Vor einigen Jahren hat die Bertelsmann-Stiftung Deutschland den vorletzten Platz im Vergleich mit 17 anderen OECD-Ländern gegeben, was die Digitalisierung des Gesundheitswesens angeht. In der Legislaturperiode, die jetzt ausläuft, haben wir sehr viele Neuerungen gesehen: Vom digitalen Versorgungsgesetz über Apps auf Rezept, der Einführung der elektronischen Patientenakte und des E-Rezeptes bis hin zur Legalisierung von Telemedizin. Zudem gab es mit dem Krankenhaus-Zukunftsgesetz Milliarden für die Digitalisierung von Krankenhäusern. Insgesamt haben wir damit wirklich große Schritte nach vorne gemacht. Aber vieles funktioniert natürlich nicht auf Knopfdruck. Deswegen ist es noch ein weiter Weg.

Zur Person

Inga Bergen hat bereits zwei Unternehmen im Bereich Digital Health als CEO aufgebaut. Sie ist studierte Politikwissenschaftlerin, nach kurzen Stationen beim Auswärtigen Amt, der UN & der Bertelsmann Stiftung ist sie 2006 ins Digitalgeschäft gewechselt und war lange bei der digitalen Innovationsberatung FJORD. Inga Bergen interessiert, wie Digitalisierung genutzt werden kann, so dass am Ende die ganze Gesellschaft davon profitiert. Heute berät sie Digital Health Unternehmer und Unternehmen, ist ich in zahlreichen Beiräten von Unternehmen und Körperschaften in der Gesundheitswirtschaft, lehrt Innovationsmethoden und ist Host des Podcast „Visionäre der Gesundheit“.

Wo steht denn Deutschland jetzt nach Ablauf der Legislatur bei der Digitalisierung des Gesundheitswesen im internationalen Vergleich?

Ich würde uns weiterhin ganz am Anfang des Prozesses verorten. Die gesetzlichen und regulatorischen Grundlagen sind geschaffen worden. Und jetzt geht es eben an die Umsetzung. Und da merken wir eben die Begrenzungen des Gesundheitssystems für diese neuen digitalen Lösungen.

Sie sprechen es schon an: viele Arztpraxen und Kliniken sind technisch noch gar nicht in der Lage, ihren Patientinnen und Patienten die neuen digitalen Angebote wie digitale Gesundheitsanwendungen oder elektronische Patientenakte anzubieten. Wie ist dieser holprige Start zu erklären?

Ich glaube, das ist bei dem System, was wir in Deutschland haben, relativ vorhersehbar gewesen, dass das genau so laufen wird. Wir haben in Deutschland ein sehr fragmentiertes System, mit zum Teil auch vielen kleinen Krankenhäusern, niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, die quasi Einzelunternehmer sind. Und die müssen das jetzt alle umsetzen. Das ist eine gigantische Aufgabe, die uns die nächsten Jahre beschäftigen wird. Viele Einzelarztpraxen haben einen Systemadministrator, der vielleicht ein lokales Netzwerk managed, aber gar nicht die Kompetenzen hat, um Schnittstellen zu schaffen, um eine Anbindung zu schaffen. Und das muss eben alles erst aufgebaut werden. Aber wie immer bei digitalen Lösungen ist es das Wichtigste, das man erst einmal anfängt. Und alles weitere kann dann ja nach und nach verbessert werden.

Müssen wir also bei der Digitalisierung auch unsere Erwartungshaltung verändern – und mehr verinnerlichen, dass wir einen langen Atem brauchen, bis die Dinge richtig gut funktionieren?

Ja, das ist mit die größte Herausforderung, die wir vor uns haben: diese kulturelle Veränderung, die uns digitalisierungsfähig macht. Eine Haltung, dass wir nicht alles perfekt machen müssen, dafür aber im Prinzip ständig dazulernen. Das fällt leichter, wenn Kompetenzen gemeinschaftlich ausgebildet werden, damit nicht jede Arztpraxis die neuen Anforderungen, die mit der Digitalisierung einhergehen, für sich alleine erfüllen muss. Arztpraxen und Kliniken könnten sich beispielsweise zu Netzwerken zusammenschließen, wenn die Aufgaben für Einzelne nicht mehr stemmbar erscheinen.

Die mangelhafte Datenerfassung im Gesundheitswesen macht derzeit Schlagzeilen, weil sich herausgestellt hat, dass die offizielle Impfquote die reale Impfquote um rund fünf Prozent unterschätzt. Ist das nur ein Einzelfall oder ist das ein Beispiel, das auf ein grundsätzliches Problem bei der Datenerfassung und Nutzung in Deutschland hindeutet?

Wir haben eine starke Fragmentierung der Datennutzung im deutschen Gesundheitswesen, weil wir ein föderales System haben und zudem auch strenge Limitierungen, was die Datenweitergabe betrifft. Deshalb brauchen wie eine einheitliche Strategie für die Datennutzung. Wie groß der Nutzen wäre, sehen wir in anderen Ländern, wie zum Beispiel Dänemark. Die haben seit 1999 eine digital health-Strategie und ein nationales Gesundheits-Portal, in das sich jeder Bürger einloggen kann, um dort einen Überblick über seine Gesundheitsdaten zu bekommen. Auch wir in Deutschland brauchen dringend eine zentrale Datenerfassung und dann auch entsprechende Institute, die die Kompetenz haben, damit zu arbeiten. Denn mit besserer Datenbasis könnten wir auch eine bessere Gesundheitsversorgung schaffen.

Wissenschaftlicher Beirat für Digitale Transformation der AOK Nordost

Die AOK Nordost hat als eine der ersten Krankenkassen bereits Ende 2016 zur Begleitung der digitalen Transformation einen Wissenschaftlichen Beirat gegründet. Der Beirat soll die AOK Nordost unparteiisch und kritisch zu Entwicklungen der digitalen Transformation beraten. Dabei geht es um ethische, rechtliche sowie technologische Fragen. In seiner Beratung und Themenauswahl sowie seinen Stellungnahmen und Handlungsempfehlungen ist das Gremium von der Gesundheitskasse unabhängig. Einmal pro Quartal beschäftigt sich der Beirat mit Projekten im Rahmen der digitalen Transformation bei der AOK Nordost.

Das Thema Datenschutz ist in Deutschland mit besonderer Sensibilität behaftet. Viele Menschen nutzen zwar zum Beispiel eine Apple-Watch, die sehr viele Daten erfasst. Aber sobald staatliche Institutionen Daten erfassen, herrscht eine größere Skepsis als in anderen Ländern. Was muss sich ändern, um das Vertrauen in die Datensicherheit zu verbessern?

Tatsächlich ist Deutschland eines der strengsten Länder der Welt, was Datensicherheit und Datenschutz angeht. Wir sehen aber bei anderen digitalen Lösungen wie der erwähnten Apple Watch: Wenn der Nutzer groß ist, werden die Bedenken weniger. Für kranke Menschen kann es eine große Erleichterung sein, alle Daten zum Beispiel in einer elektronischen Patientenakte nutzen zu können. Es kann Leben retten, wenn im Notfall Daten über Morbidität oder über Medikation verfügbar sind, die das Gesundheitspersonal nutzen kann. Und all diese Vorteile, die werden natürlich mit zunehmendem Angebot auch sichtbarer.

Ich denke aber auch, dass wir von der regulatorischen Seite in Deutschland wirklich schauen müssen, dass wir nicht zur Verunsicherung beitragen. Ich denke da insbesondere an Datenschützer, die in Deutschland teilweise eine sehr strikte Auffassung von Datenschutz haben und die geltende Datenschutzverordnung immer wieder sehr rigide auslegen. Ich plädiere dafür, dass wir endlich zu einer konstruktiven Diskussion kommen, die auch pragmatisch ist, was Datenschutz angeht. Die den Datenschutz nicht als das höchste Gut bewertet, sondern diesem Gut auch den Wert von Datennutzung gegenüberstellt.

Die potentiellen Koalitionspartner schreiben in ihrem Sondierungspapier, dass Digitalisierung Querschnittsaufgabe werden soll, dass alle Gesetze einem „Digitalisierungs-Check“ unterworfen werden. Halten Sie das für sinnvoll, um schneller voran zu kommen?

Ich denke, dass es in erster Linie wichtig ist, dass die Persönlichkeiten, die Digitalisierung jetzt als Aufgabe übernehmen, dieses Thema wirklich verstanden haben und es mit intrinsischer Motivation und Herzblut vorantreiben. Denn wir müssen in Deutschland einiges nachholen. Wir sind eine superstarker Gesundheits-Standort. Wir haben eine gute Gesundheitsversorgung. Aber Digitalisierung muss jetzt wirklich ernst genommen und in der Umsetzung exzellent ausgeführt werden, damit wir wettbewerbsfähig bleiben und die Qualität der Gesundheitsversorgung auch langfristig aufrechterhalten können.

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