„Ich habe viele Jahre meine Mutter zu Hause versorgt. Trotzdem habe ich ‚nebenbei‘ voll gearbeitet. Damit wollte ich mir selbst eine ausreichende Rente sichern. Diese Doppelbelastung hat mich an den Rand meiner Belastungsgrenze gebracht. Erst jetzt habe ich erfahren, dass ich bei Reduktion auf 30 Arbeitsstunden wöchentlich von der Pflegekasse eine Unterstützung für meine spätere Rente bekommen kann.“ Das ist nur ein Beispiel von vielen Unklarheiten in der häuslichen Pflege. Wer hat Anspruch auf was? Wann? Wie und wo?
Speziell ausgebildete Pflegeberaterinnen und Pflegeberater unterstützen hier professionell. Sie sind in vielen Strukturen des Gesundheitswesens zu finden, zum Beispiel in den Pflegekassen und den Pflegestützpunkten. Für den Erhalt und die Stärkung dieses wichtigen Lotsensystems setzt sich Hans-Joachim Fritzen ein, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Nordost.
Herr Fritzen, Sie sprachen vor einem Jahr davon, dass die Pflegeversicherung im Laufe der Zeit ein Dschungel geworden ist. Was hat sich dort in den vergangenen 12 Monaten getan?
Man kann nicht davon sprechen, dass der Dschungel durchsichtiger geworden ist und man sich besser zurechtfindet. Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung sind einige Vorteile für unsere Versicherten hinzugekommen. Denn die Leistungen haben sich in verschiedenen Bereichen erhöht. Für die ambulanten Pflegesachleistungen und für die Kurzzeitpflege werden höhere Leistungsbeiträge durch die Pflegekasse gezahlt. Und für die stationäre Pflege ist zunächst der Eigenanteil gesunken, den man selbst leisten muss. Leider ist dieser Effekt aber durch eine zentrale Neuerung der Pflegereform schon wieder verpufft.
Seit September 2022 dürfen nur noch die Pflegeanbieter Leistungen mit der Pflegeversicherung abrechnen, die entweder an einen Tarif gebunden sind oder sich in der Höhe der Entlohnung an einem entsprechenden Tarifvertrag orientieren. So gut diese Änderung für die Beschäftigten in der Pflege ist, so hat sie auch Auswirkungen auf unsere Versicherten, denn sie müssen die dadurch entstehenden Mehrkosten übernehmen. Dadurch ist ihr Eigenanteil zum Teil massiv angestiegen. Die Beratenden in den Pflegestützpunkten oder auch bei uns in der AOK Nordost haben dazu einige verzweifelte Anrufe von Pflegebedürftigen erhalten, die um Rat für die künftige Finanzierung der eigenen Versorgung gebeten haben. Hier zeigt sich die wichtige Funktion des Lotsensystems.
Was sind aus Ihrer Sicht derzeit die drängendsten Probleme in der Pflegeversicherung?
Menschen, die Leistungen der Pflegeversicherung beanspruchen möchten, können nur schwer selbst herausfinden, welche Leistungen ihnen im Bedarfsfall zustehen. Noch schwieriger ist es für die meisten, die Fachbegriffe richtig zu verstehen und zu erkennen, welche Voraussetzungen gelten und welche Anträge gestellt werden müssen. Mit Bezeichnungen wie Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege und Sachleistungen können Fachfremde kaum etwas anfangen. Wir stellen auch häufig fest, dass Pflegebedürftige und ihre Angehörigen selten die Unterschiede zwischen Pflegeberatung (§ 7a SGB XI), Beratungsbesuchen (§ 37 Abs. 3 SGB XI) und Pflegekursen (§ 45 SGB XI) verstehen.
So können pflegebedürftige Personen eine Pflegeberatung in Anspruch nehmen, die von professionell Beratenden durchgeführt wird und freiwillig ist. Der Beratungsbesuch hingegen ist verpflichtend. Wird dieser Besuch nicht in Anspruch genommen, kann das Pflegegeld gekürzt oder gestrichen werden. Der Pflegekurs umfasst ebenfalls Beratungsinhalte, wobei diese Schulung freiwillig beansprucht werden kann. Es wäre äußerst sinnvoll, wenn diese drei Einzelleistungen zu einer umfassenden Pflegeberatung zusammengefasst werden. Das würde für mehr Verständnis und Transparenz sorgen und könnte darüber hinaus die Funktion der Pflegeberaterinnen und -berater spürbar stärken.
Es ist bekannt, dass etwa 80 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt werden, viele von nicht professionell Pflegenden wie den eigenen Angehörigen. Wie können die Pflegeberatenden in dieser Situation unterstützen?
Die Beraterinnen und Berater der Pflegestützpunkte leiten pflegende Angehörige durch den Pflege-Dschungel. Neben allgemeinen Informationen zu möglichen Leistungen analysieren sie gemeinsam mit den Angehörigen bei Bedarf die Versorgungslage ganz genau. Mit speziellen Beratungsmethoden unterstützen sie die Angehörigen, ihren Bedarf zu definieren und konkrete Lösungen zu finden. Durch den engen Kontakt und die besondere Beratung soll eine Überforderung von pflegenden Angehörigen und Zugehörigen reduziert und auch vorgebeugt werden.
Darüber hinaus können die Pflegeberatenden sehr gut einschätzen, ob sich der Aufwand überhaupt lohnt, einen speziellen Antrag zu stellen. Sie kennen die Voraussetzungen für eine Pflegebedürftigkeit und wissen genau, ob eine Höherstufung angezeigt ist oder ob es sinnvoll sein kann, einer Entscheidung zu widersprechen.
Zudem verfügen die Pflegeberaterinnen und -berater über einen ganz besonderen Weitblick. Sie kennen ihre Region genau und wissen, wo welche Angebote vorhanden sind und wo es noch Versorgungslücken gibt. Deshalb muss auch die gesellschaftliche Toleranz für diese Spezialisten weiter gestärkt werden. Letztlich sollten alle Menschen mit Pflegebedarf und ihre Angehörigen ihren Anspruch auf Pflegeberatung kennen.
Sie wollen die Pflegeberaterinnen und -berater weiter stärken. Wie genau soll das geschehen?
Für unsere Versicherten ist die Beratung aus einer Hand wichtig. Sie brauchen eine Ansprechpartnerin oder einen Ansprechpartner, der oder die sie bei allen Fragen informiert, berät und unterstützt. Dafür sind die Pflegeberaterinnen und -berater hervorragend geeignet. Sie haben den Überblick über alle wichtigen Hilfs- und Unterstützungsangebote, und zwar nicht nur in der Pflege. Sie können auch zur Gesundheitsförderung, zur Prävention und rund um die Reha beraten oder sonstige medizinische und soziale Hilfen aufzeigen.
Wir haben da mit der Pflegeberatung ein sehr gut ausgebautes Lotsensystem mit viel Know-how und einem großen regionalen Netzwerk. Leider bleibt dessen Potenzial bisher viel zu oft ungenutzt, da es derzeit noch speziell auf Pflegebedürftige und ihre Angehörigen ausgerichtet ist. Unsere Erfahrungen damit sind jedoch so gut, dass wir diese Struktur stärken, ausbauen und weiterentwickeln wollen, damit auch andere Hilfsbedürftige davon profitieren können.
Informationen zu den Pflegestützpunkten in
> Berlin
> Brandenburg
> Mecklenburg-Vorpommern
In Berlin pflegen Frauen rund dreimal häufiger als Männer ihre Angehörigen. Das hat eine aktuelle Datenanalyse der AOK Nordost ergeben. Pflegeberater Frank Schaberg erklärt die Gründe für diesen Gender Care Gap im Interview „Männer delegieren Pflegeaufgaben lieber“