Es geht ums Hinschauen – gute Ergebnisse im Qualitätsatlas Pflege nicht als Freifahrtschein nutzen

Kritische Arzneimittel oder dehydriert ins Krankenhaus – der Qualitätsatlas Pflege des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zeigt vermeidbare Fehler auf, die häufig an der Schnittstelle von Pflegeheim und medizinischer Versorgung passieren. Dr. Antje Schwinger, Leiterin des Forschungsbereichs Pflege, plädiert im Interview zum genauen Hinschauen und zeigt Wege auf, diese Daten gezielt für gute Pflegequalität zu nutzen.

Frau Dr. Schwinger, wie lässt sich Qualität in der Pflege messen? Welche Instrumente nutzt das WIdO dafür?


Es gibt viele unterschiedliche Arten, Qualität zu messen. Häufig nutzt man spezielle Dokumentationen der Einrichtungen, man kann aber auch Patienten befragen, für sogenannte Patient-Reported Outcomes. Im WIdO liegen uns die Abrechnungsdaten aller AOKen vor, und zwar sektorenübergreifend. Wir haben Informationen darüber, ob jemand im Pflegeheim lebt und auch bei welchen Ärztinnen und Ärzten er behandelt wurde. War er im Krankenhaus? Hat er Hilfsmittel oder Heilmittel bekommen? Diese Informationen nutzen wir, um Versorgungschnittstellen zu beleuchten.

Und diese werden dann im Qualitätsatlas Pflege veröffentlicht. Mögen Sie ein Beispiel nennen?

Eine typische Schnittstelle liegt zwischen Pflegeheim und Krankenhaus. Wir sehen auch ambulant-ärztliche Behandlungen und vor allen Dingen die Gabe von Arzneimitteln. Wir betrachten also nicht die reine Pflegequalität mit unserem Qualitätsatlas, sondern immer etwas, woran beide Berufsgruppen, die Ärztinnen und Ärzte wie auch die Pflegekräfte und das Pflegeheim gemeinsam beteiligt sind. Im WIdO nutzen wir die Abrechnungsdaten aller AOKen und verarbeiten diese zu sogenannten Indikatoren, um dann für relevante Schnittstellen Qualitätsdefizite aufzeigen zu können.

Porträt von Dr. Antje Schwinger, Forschungsbereichsleiterin Pflege am Wissenschaftlichen Institut der AOK

Dr. Antje Schwinger ist examinierte Pflegefachkraft und hat in Gesundheitsökonomie promoviert. Sie ist Leiterin des Forschungsbereichs Pflege am Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO).

Die Grundlage dafür vermitteln insgesamt zehn Indikatoren, die Sie im WIdO ausgewertet haben. Auf welchen Kriterien fußen die?

Sie basieren auf sehr detaillierten Literatursichtungen, Sichtungen von Leitlinien und all dem, was man zum Beispiel auch aus Projekten weiß, die durch Innovationsfonds gefördert werden. Wir haben zehn Aspekte herausgegriffen, die relevant sind, also häufig vorkommen und bei denen auch ein hohes Fehlversorgungspotenzial da ist. Ein Beispiel: Antipsychotika sind für Demenzkranke risikoreich. Sie haben schwerwiegende Nebenwirkungen und führen bei vielen Betroffenen früher zum Tod.

Zeigen Sie Alternativen zu den genannten Gefahrenquellen auf?

Genau, es ist immer dieser Dreischritt, es muss relevant sein, es muss eine Gefahr davon ausgehen und es muss Maßnahmen geben, wie ich dem begegnen kann. Bleiben wir beim Beispiel „Antipsychotikagabe bei Demenz“. Hier können Schulungen, eine bessere interdisziplinäre Kommunikation sowie regelmäßige Überprüfung der Medikamentenpläne helfen, die Verordnungsraten zu senken.

Wie können Entscheidungsträgerinnen in Politik und Pflege oder auch bei den Kranken- und Pflegekassen die Informationen aus dem Pflegeatlas nutzen?

Unser Anliegen oder unsere Hoffnung ist, damit einen Impuls an die regionalen Akteure zu geben; an die Krankenkassen, die Leistungserbringer und die Trägerverbände vor Ort, die Kommunen, zum Beispiel in Pflegekonferenzen gemeinsam hinzuschauen und zu sagen: Das sind wichtige Themen. Was machen wir hier eigentlich und wie stehen wir da.

Zeigen diese Indikatoren schon ein vollständiges Bild oder sind weitere geplant?

Es sind auf jeden Fall weitere geplant. Der Qualitätsatlas Pflege ist ein Start, denn er kann nicht allumfassend die Qualität beschreiben. Uns war wichtig, auf diese Themen aufmerksam zu machen, weil wir aus sehr vielen Analysen um all diese Probleme wissen.

Im Nordosten ist es nach ihren Auswertungen um die Qualität in der Pflege im bundesweiten Vergleich recht gut bestellt. Ist das ein Grund zur Entspannung?

Dieses Phänomen ist sehr interessant, dass eigentlich ganz Ostdeutschland wesentlich besser ist bei der Nicht-Verschreibung von kritischen Arzneimitteln – seien es Schlafmittel, Antipsychotika oder Medikamente zu verschreiben, die für Ältere eben ganz generell gefährdend sind. Gleichzeitig ist folgendes wichtig zu verstehen: Wenn eine Region im bundesweiten Vergleich zu den besseren gehört, wäre es schade, wenn dies als „Freifahrtschein“ verstanden wird.

Sondern?

Das Ganze ist eine Momentaufnahme. Man sieht: Ok, bei uns sieht es im Moment gut aus, aber das eben gemessen im Vergleich zu allen Heimen bundesweit. Auch ein vermeintlich geringer Wert an Antipsychotika-Verordnungen kann noch zu hoch sein, wenn man den absoluten Wert anschaut. Auch kann sich die Situation im Zeitverlauf verändern. Wichtig wäre auch sich die Frage stellen: Ok, wir sind gut, woran liegt das bei uns? Vielleicht daran, dass wir das Personal schon gut geschult haben, weil wir hier ein Modellprojekt haben. Dann gilt es diese Maßnahmen weiter zu verfolgen. Der Qualitätsatlas soll sensibilisieren. Es geht um ganz relevante und beeinflussbare Dinge, die für die Pflegeheimbewohner wirklich negative Auswirkungen haben.

Wie steht es um die Finanzierung und die Qualtität in der Sozialen Pflegeversicherung und was ist jetzt dringend zu tun? Über diese Frage sowie über über Anforderungen an eine nachhaltige Finanzierung und gute Qualität in der Pflege wird im gesundheitspolitischen AOK-Forum live diskutiert werden.

Wann: Montag, 26.02.2024 | 16:00 Uhr

Wo: IHK zu Schwerin, Lüdwig-Bölkow-Haus Graf-Schack-Allee 12, 19053 Schwerin | Saal Mecklenburg

Welches Feedback bekommen Sie von Entscheiderinnen und Entscheidern auf die Auswertungen?

Wir hören häufig den Wunsch, das Ganze auch einrichtungsbezogen zu sehen. Wir haben bewusst die kreisbezogene Darstellung öffentlich gemacht. Die Krankenkassen und Träger interessiert natürlich aber auch: Wie schneiden die einzelnen Pflegeheime ab? Der Qualitätsatlas soll auf Kreisebene ein Impuls geben: hier sind wichtige Themen, mit denen müssen wir uns beschäftigen. Schaut doch bitte mal vor Ort genau hin. Aber schlussendlich müssen wir dahin, das Ganze einrichtungsbezogen zu kommunizieren, denn Qualität passiert natürlich in der individuellen Einrichtung und nicht im Durchschnitt je Kreis.

Planen Sie schon konkret etwas dazu?

Wir haben dazu ein Folgeprojekt, bei dem wir jetzt in Bayern mit 40 Pflegeheimen genau dies erproben. Jede Einrichtung bekommt ihre Indikatoren und einige zusätzliche Unterstützung durch Qualitätszirkel mit den Ärzten. Wir wollen in einer Begleitevaluation schauen, was die Entscheider vor Ort mit den Qualitätsinformationen konkret machen.

Ist es eine Vision, die Ergebnisse einrichtungsbezogen zu veröffentlichen und sie dann mit weiteren Informationen im Pflegenavigator auch Angehörigen zur Verfügung zu stellen?

Für mich ist es auf der einen Seite schon eine Vision. Denn wäre ich Angehöriger: mich würde schon interessieren, wie es beispielsweise um kritische Arzneimitteleinsätze steht im Heim, dass ich mir für meine Mutter anschaue. Problematisch ist jedoch: Das Pflegeheim ist ja im juristischen Sinne nicht verantwortlich für die Verordnung. Insofern: einrichtungsbezogen ja, aber bis wir dies im Pflegenavigator veröffentlichen dürfen, wird sicher noch eine sehr lange Zeit vergehen.

An welchen Stellen könnten die Informationen schon früher genutzt werden, um auf gute Qualität hinzuwirken?

Das ist natürlich zuerst einmal bei der jeweiligen Einrichtung vor Ort. Aber ich glaube auch, dass es weitere Möglichkeit gibt: zum Beispiel kommt der Medizinische Dienst einmal jährlich zur Prüfung ins Heim. Ihm könnte man Informationen mitgeben und sensibilisieren: Hier schaut mal, wir wissen, das Heim ist auffällig bei den Antipsychotika, schaut da doch mal ein bisschen hin.Auch die Krankenkassen in ihrer Kontrollfunktion könnten das Wissen nutzen, zum Beispiel wenn sie Verträge aushandeln, weil sie ja schlussendlich auch mit in der Verantwortung stehen. Es muss also nicht zwingend nur die öffentliche Qualitätsberichterstattung sein, wie man sie im Pflege Navigator findet, für die die Indikatoren genutzt werden können.

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