In Berlin pflegen Frauen rund dreimal häufiger als Männer ihre Angehörigen. Das hat eine aktuelle Datenanalyse der AOK Nordost ergeben. Pflegeberater Frank Schaberg erklärt die Gründe für diesen „Gender Care Gap“.
Herr Schaberg, der Männeranteil bei pflegenden Angehörigen, die bei der AOK versichert sind, lag in Berlin im vergangenen Jahr nur bei 27 Prozent. Woran liegt es aus Ihrer Sicht, dass Männer so viel seltener Angehörige pflegen als Frauen?
Ein bisschen liegt es auf der Hand, wenn man an klassische Rollenbilder der Großeltern denkt: Frauen übernehmen die Sorgearbeit in der Familie, Männer bringen das Geld nach Hause. Ich erlebe in der Beratung im Pflegestützpunkt auch gefühlt seltener, dass ich einen hochaltrigen Mann zur Versorgung seiner Ehefrau berate, als umgekehrt – und das obwohl laut Statistischem Bundesamt der Anteil pflegebedürftiger Frauen, die häuslich versorgt werden, insgesamt höher ist als der der Männer.
Diese alten Rollenbilder sind bei den jüngeren Generationen allerdings oft längst überholt. Rollen und Familienbilder, die Kontexte, in denen Angehörigenpflege organisiert wird, sind bei jüngeren Menschen, die ich berate, fluider und vielfältiger geworden. Bis hin zu Sorge und Pflege in Regenbogenfamilien, das begrüße ich. Wir leben in einer Realität, in der einerseits Frauen bessere Karrierechancen entwickeln können und andererseits Männer andere Selbstbilder – in denen auch mehr Engagement für die Sorgearbeit in Familien vorkommt.
Aber bei allen Veränderungen im Beruf und dem Wandel der Familienbilder: noch verdienen viele Männer im Schnitt mehr als die Frauen, auch arbeiten sie häufiger in Vollzeit als Frauen. Das ist zumindest ein Grund, warum sie seltener beruflich pausieren oder Arbeitszeiten reduzieren für die Sorge und Pflege von Eltern, Partnern oder Kindern.
Stellen Sie bei jüngeren Berliner Paaren, die Sie beraten, eine Trendumkehr fest – hin zu mehr Gleichberechtigung bei der Care-Arbeit?
Teilweise ja. Aber überwiegend erlebe ich schon noch, dass Frauen mehr Sorgearbeit und Pflege in den Familien schultern. Der Klassiker ist häufig noch, dass Töchter, Schwiegertöchter, Ehefrauen oder andere weibliche Angehörige den Haushalt der Pflegebedürftigen mit übernehmen oder häufiger als Männer bei der Körperhygiene helfen. Männer machen öfter mal den wöchentlichen Großeinkauf, oder kümmern sich eher um den Behördenkram. Außerdem sind Männer häufiger an technischen Lösungen interessiert und delegieren Pflegeaufgaben lieber.
Auch kulturelle Besonderheiten spielen eine Rolle. Die Beratungskundinnen und -kunden in Schöneberg haben nicht selten Migrationshintergrund, es sind zum Beispiel Kinder- und Enkelgenerationen der türkischen Gastarbeiterfamilien, auch junge Menschen mit Wurzeln aus dem arabischen und osteuropäischen Sprachraum. Die Rollenbilder sind in diesen Milieus oft noch sehr traditionell.
Eine spürbare Trendumkehr zu mehr Gleichberechtigung insgesamt kann ich schwer feststellen. Aber die Männer, die zusammen mit ihren Partnerinnen in unseren Pflegestützpunkt kommen, sind schon offener dafür, selbst Care-Arbeit zu übernehmen.
Unsere Datenanalyse zeigt, dass junge Berliner Männer weitaus häufiger Angehörige pflegen, als junge Männer aus Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern dies tun. Wie ist dieses Stadt-Land-Gefälle aus Ihrer Sicht zu erklären?
Berlin ist eine junge und vielfältige Stadt und bietet viele Räume zur Gestaltung von Lebensentwürfen. Berlin ist Beratungs-City, Gesundheitsstadt, die Stadt der Künstler, kreativen Tüftler und Startups. Es gibt eine vielfältige Infrastruktur mit vielen medizinischen, pflegerischen und betreuerischen Dienstleistungen. Das ist in Flächenländern wie Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern etwas anders.
Meine Vermutung ist, dass eine Großstadt wie Berlin ihren Bewohnerinnen und Bewohnern auch andere Berufsbiografien und soziale Rollen bietet – und damit auch andere Vorbilder in den Familien. Zudem haben wir hier vielfältigere Beratungs- und Hilfsangebote. Junge Männer haben deshalb in Berlin wahrscheinlich bessere Möglichkeiten, Beruf und Pflege zu vereinbaren.
Wie können wir als AOK Nordost Männer dabei unterstützen, mehr Verantwortung in der Familienpflege zu übernehmen?
Ich denke, da machen meine Kolleginnen und Kollegen in den Pflegestützpunkten schon eine hervorragende Beratungs- und Unterstützungsarbeit. Wir helfen den Familien dabei, die Leistungsmöglichkeiten der Pflegeversicherung zu verstehen und beraten eben auch zu Themen wie Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Zudem können wir Themen der Be- und Entlastung sensibel ansprechen und die Beratungskunden durch den Berliner Dschungel von Hilfs- und Unterstützungsangeboten lotsen. Davon profitieren sowohl Männer als auch Frauen.
Ich betrachte es als großen Erfolg, dass die AOK Nordost zusammen mit den anderen Pflegekassen und den Bundesländern die Pflegestützpunkte seit 2009 aufgebaut hat. Und ich denke, wir können zurecht sagen, dass sie inzwischen zu einem Leuchtturmprojekt geworden sind.
Pflegende Angehörige werden von speziell ausgebildeten Pflegeberaterinnen und Pflegeberatern professionell unterstützt. Für den Erhalt und die Stärkung dieses wichtigen Lotsensystems setzt sich Hans-Joachim Fritzen ein, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Nordost:“Gut beraten durch den Pflege-Dschungel kommen“