„Entscheidungen werden auf der Basis von Erfahrungen getroffen – nicht von Annahmen” 

Professor Thorsten Schlomm ist Direktor der Klinik für Urologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Mitbegründer des Netzwerks Hauptstadt Urologie. Er erklärt, welche Rolle die Genforschung in der Krebsmedizin spielt, welche Vorteile das Netzwerk für die Versorgungsforschung bietet und was der Netzwerk-Ansatz mit “Google Maps” zu tun hat  

Herr Prof. Schlomm, wie ist die Idee für das Netzwerk Hauptstadt Urologie entstanden?  

Ich bin seit ungefähr fünfzehn Jahren auf dem Gebiet der Genforschung tätig. Regelmäßig halte ich dazu auch Vorträge vor den niedergelassenen ärztlichen Kollegen. Und die Resonanz war immer ähnlich: „Das ist ja toll, was ihr da alles macht, aber davon haben und ich und meine Patienten nichts“. Und so ist die Idee zum Netzwerk Hauptstadt Urologie entstanden: Wir bringen die Innovationen der Charité zu den Urologen und Patienten in der Peripherie.   

Wie funktioniert das genau?  

Unsere Experten vernetzen sich mit den niedergelassenen Urologen sozusagen in einer virtuellen Arztpraxis. Die Behandlung des Patienten bleibt weiterhin in den Händen seines Arztes – der ist der Chef. Er schätzt ein, ob sich ein Patient für das Programm eignen könnte und gibt ihm den Zugangscode für die digitale Daten-Plattform. Er prüft die Daten, er erhält die Empfehlungen zum weiteren Vorgehen und er entscheidet, ob er diesen Empfehlungen folgt.  

Wenn der Arzt und sein Patient an dem Programm teilnehmen, haben sie Zugang zu aktuellen Forschungsergebnissen. Dann besteht noch eine Chance für den Patienten, der vielleicht schon als austherapiert gilt.

Professor Thorsten Schlomm

Klingt nach viel zusätzlichem Aufwand für den Arzt.  

Ist es aber nicht. Im Gegenteil, der Aufwand ist sehr überschaubar. Vor allem, wenn man bedenkt, was der Nutzen für die Ärzte und ihre Patienten ist. Für beide ist es besonders hart, wenn der Arzt dem Patienten sagen muss, dass er mit seinem Latein am Ende ist. Wenn dieser an dem Programm teilnimmt, haben er und damit seine Patienten unmittelbaren Zugang zu den ganz aktuellen Forschungserkenntnissen und Therapien in der Krebsmedizin. Dann besteht noch eine Chance für den Patienten, der vielleicht schon als austherapiert gilt. Und der Arzt kann mit Fug und Recht behaupten: Ich habe wirklich alles getan, was in meiner Macht steht – das macht einen gewaltigen Unterschied.   

Wie hoch ist der Aufwand für die Patienten?   

Der ist vielleicht am Anfang etwas höher, wenn sie alle ihre Daten zusammensuchen und eingeben müssen. Aber mal ehrlich: Wer würde diesen Aufwand nicht auf sich nehmen, wenn es um Leben und Tod geht? Und im Zweifelsfall können die Patienten sicherlich auch jemand aus der Familie oder Freunde um Hilfe bitten. Die Aktualisierung der Daten ist dann schnell erledigt. Dafür bekommen die Patienten automatisch immer wieder eine neue Einschätzung und gegebenenfalls eben den Hinweis auf eine passende Studie oder eine Gendiagnostik. Niedrigschwelliger kann man den Zugang zu hochspezialisierter Medizin aus meiner Sicht gar nicht gestalten.   

Warum spielt die die Gen-Diagnostik eine so wichtige Rolle?  

Mittlerweile wissen wir, dass bei einigen Krebsarten bestimmte Gen-Veränderungen eine wichtige Rolle spielen. Die wirken wie Beschleuniger und lassen die Tumorzellen unkontrolliert wachsen. Das kann man sich vorstellen wie einen Schaltmechanismus: Eine Mutation kann zum Beispiel ein Krebs-Gen ‚anschalten‘, was dann zum Krebswachstum und zu Metastasen führt. Einige dieser ‚Genschalter‘ kann man mit speziellen Medikamenten wieder umlegen und damit das Krebs-Gen ‚ausschalten‘. Hierzu muss man aber sehr genau die Gene in einem Tumor untersuchen und die Ergebnisse auch verstehen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass eine solche Sequenzierung und Auswertung der Ergebnisse von Ärzten und Pathologen vorgenommen wird, die auf diesem Gebiet sehr erfahren sind und dann auch eine Handlungsempfehlung geben können. 

Zur Person

Professor Thorsten Schlomm leitet seit 2018 die Urologische Klinik der Charité-Universitätsmedizin. Der mehrfach ausgezeichnete Experte ist Spezialist auf dem Gebiet des Prostatakarzinoms und beschäftigt sich zudem seit mehr als zehn Jahren mit der Genforschung. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen und Buchbeiträge herausgegeben und ist neben seiner beruflichen Tätigkeit als Gutachter für nationale und internationale wissenschaftliche Fachzeitschriften tätig. Schlomm ist außerdem Mitglied der Deutschen, Europäischen und Amerikanischen Gesellschaft für Urologie sowie der American Association for Cancer Research.

Wie genau läuft das dann ab, wenn der Arzt eine Empfehlung zur Gen-Sequenzierung bekommen hat?  

Wenn der behandelnde Arzt mit der Empfehlung einverstanden ist, kann er seinen Patienten darüber informieren. Der kann sich dann per Telefon oder Email bei dem Charité-Team melden. Dieses übernimmt dann den gesamten Prozess, also schickt ihm dann alle Unterlagen nebst Einwilligungserklärung zu. Auf Wunsch bekommt er auch nochmal einen Telefontermin zur Aufklärung. Wenn ihm das lieber ist, kann er sich natürlich auch von seinem Arzt aufklären lassen. Die Charité fordert dann die letzte Gewebeentnahme vom Pathologen an, das Gewebe wird genetisch untersucht und das Ergebnis in einem speziellen molekularen Tumorboard besprochen. Der niedergelassene Urologe bekommt einen Arztbrief, in dem ganz klar steht, welche relevante Mutation gegebenenfalls gefunden wurde und welches Medikament dagegenwirkt. Er bekommt also eine klare Handlungsempfehlung.   

Was passiert mit den Daten der Patienten?  

Zunächst einmal: Die Dateneingabe und -verarbeitung läuft absolut datenschutzkonform. Die Patienten geben die Daten selbst ein und auch der Arzt hat nur Zugriff darauf, wenn der Patient es erlaubt. Wir stellen außerdem sicher, dass die Patientennamen nicht mit den klinischen Verläufen in Verbindung gebracht werden können. Und wir behalten diese Daten auch nicht für uns, sondern geben sie an die Forschung weiter, wo sie anonymisiert genutzt werden können. Und für die Forschung sind solche Daten, wie wir sie aus dem Netzwerk Hauptstadt Urologie bereitstellen können, enorm wertvoll.  Eine wichtige Funktion für die Patienten ist unser sogenanntes „Base Camp“. Wenn auch zum Zeitpunkt der Genanalyse noch keine Therapie vorhanden ist, oder aufgrund der aktuellen Situation keine Studie oder neue Therapie zur Verfügung steht, kann sich das teilweise schlagartig durch die rasant fortschreitende Forschung ändern. Die gespeicherten Daten der Netzwerkpatienten werden regelmäßig überprüft, ob eine gestern noch irrelevante Genveränderung nicht Heute doch therapierbar ist oder bei neu eingegebenen Daten jetzt doch eine Studie zur Verfügung steht. Deshalb ist es auch sehr wichtig, dass die Patienten Ihre Daten regelmäßig atualisieren.  

Warum?   

Ich erkläre das gerne am Beispiel von Google Maps. Das wird durch Bewegungsdaten ständig aktualisiert und ist immer auf dem neuesten Stand. Sogar der Stau kann in Echtzeit erfasst werden. Wenn ich früher mit meinen Eltern in den Urlaub gefahren bin, dann hatten die einen ganzen Stapel an Landkarten dabei. Und dann wollte man dort abbiegen, wo es die Landkarte gesagt hat, nur um festzustellen, dass es diese Straße schon gar nicht mehr gab. Weil die Landkarte schon ein paar Jährchen alt war. Bei Studien ist das ähnlich: Sie werden publiziert und sind ab Einreichung des Papers schon zwei Jahre alt. Das heißt, man beruft sich immer auf eigentlich schon veraltete Daten. Neue Erkenntnisse oder beispielsweise neu aufgetauchte Nebenwirkungen sind da noch gar nicht drin.   

Und das Netzwerk Hauptstadt Urologie ist sozusagen das Google Maps der Forschung?  

So in etwa (lacht). Im Netzwerk fragen wir regelmäßig bei den Patienten nach: Gibt es was Neues? Sind zum Beispiel Nebenwirkungen aufgetreten? Wir können dann vergleichen: Bei dieser Gruppe von Patienten spricht das Medikament besonders gut an, diese Gruppe reagiert eher schlecht darauf. Dann schauen wir: Was haben die Patienten in dieser Gruppe gemeinsam? So haben wir zum Beispiel herausgefunden, dass eine Gruppe von Patienten mit einer ganz bestimmten Gen-Mutation schlechter auf die Standardtherapie anspricht. Übertragen auf die ganz konkrete Versorgung von Krebspatienten heißt das: Entscheidungen können auf Erfahrungen basierend getroffen werden und nicht auf Annahmen.  

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