„Amputationen gilt es zu vermeiden“

Foto: Andre Piorek

„Ein Meilenstein“, so nennt es Dr. Jan Theil: Im Januar 2022 ist die Behandlung des Diabetischen Fußsyndroms in die Disease-Management-Programme Diabetes Mellitus Typ 1 und Typ 2 integriert worden. Dies stellt eine große Verbesserung der Versorgung von Diabetes-Patientinnen und Patienten dar. Wieso das so ist, darüber spricht Dr. Jan Theil, Chefarzt im Klinikum Königin Elisabeth Herzberge in Berlin-Lichtenberg und Mitglied der AG Fuß der Deutschen Diabetes Gesellschaft, im Interview.   

Herr Dr. Theil, was genau ist das Diabetische Fußsyndrom? 

Der Begriff „Diabetisches Fußsyndrom“ beschreibt ein recht komplexes Krankheitsbild und eine schwerwiegende Folgeerkrankung von Diabetes, bedeutet jedoch erst einmal nur, dass es eine Wunde am Fuß bei Menschen mit Diabetes gibt. Das Problem ist, dass diese Patientinnen und Patienten bei Wunden – gerade am Fuß – häufig längere Heilungszeiten haben. Beim Diabetischen Fußsyndrom unterscheidet man in erster Linie nicht, welche Ursachen zugrunde liegen. Damit ist der Weg zum Diabetologen und entsprechend die rasche, kompetente Diagnostik und Behandlung gebahnt. (dazu: „Achte drauf und gucke nach“ – das A & O bei Diabetes)

Bleiben diese Wunden unbehandelt oder werden nicht ausreichend behandelt, kann eine Amputation des Fußes oder sogar des gesamten Unterschenkels die Folge sein. 2016 wurden deutschlandweit 50.000 Amputationen durchgeführt. Was sind die größten Risikofaktoren? 

Aus meiner Sicht ist die sogenannte Polyneuropathie die wichtigste Ursache für diese Erkrankung. Häufig beginnt diese an den Zehen und breitet sich dann über die Fußsohle bis zu den Knöcheln aus. Menschen mit Polyneuropathie, haben zumeist eine veränderte Wahrnehmung. Das heißt, sie spüren keine Schmerzen, die eigentlich ein klassisches Warnsignal des Körpers sind oder nehmen diese verändert wahr. Ein Beispiel: Wenn man kleine Steinchen im Schuh hat, macht man diese normalerweise raus. Bei Diabetes-Patientinnen und -Patienten kann es passieren, dass sie dieses Steinchen im Schuh nicht bemerken. Eine Wunde entsteht, um die sie sich dann auch nicht kümmern, weil sie nicht weh tut. Ein weiterer wichtiger Punkt für die Entstehung des Diabetischen Fußsyndroms sind Gefäßerkrankungen. Menschen mit Diabetes haben oft eine besondere Form der Arteriosklerose. Das betrifft neben den großen Gefäßen zusätzlich die kleinen Gefäße, sodass Haut und Muskeln unzureichend mit Blut versorgt werden.  

Die Kombination aus Polyneuropathie und Arteriosklerose ist die häufigste Ursache dafür, dass Wunden länger bestehen als normal. Je länger jedoch eine Wunde offen ist, umso leichter kann sie sich infizieren. Und diese Infektionen machen uns große Probleme und sind der häufigste Grund, warum Menschen stationär aufgenommen werden müssen.  

Es gibt noch viele andere Gründe, warum das DFS entstehen kann: Viele Menschen haben durch den Diabetes Sehstörungen. Das heißt, sie können ihre Füße gar nicht so gut sehen. Menschen aus sozial schwachen Verhältnissen, können sich nicht immer sachgerechte Schuhe kaufen. Aber es gibt natürlich auch Menschen, die depressiv erkrankt und nicht zur Selbsthilfe fähig sind. Und so gibt es viele weitere Faktoren, die die fehlende Abheilung von Wunden begünstigen.  

Wer ist eigentlich…Dr. Jan Theil?

Dr. Jan Theil ist Internist, Angiologe und durch die ÄK und die Deutsche Diabetes Gesellschaft zertifizierter Diabetologe. Seit 2012 betreibt er eine Fußambulanz am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Berlin. Seit 2016 ist er Chefarzt der Kardiologie, Angiologie und Diabetologie. Er ist unter anderem Mitglied der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und der AG Fuß der DDG. Außerdem ist er Vorstandsmitglied des Fördervereins Angiologietage Berlin und des Wundnetzes Berlin-Brandenburg.

Wie läuft die Behandlung dieser Wunden dann ab? 

Zunächst müssen wir die Füße inspizieren, das heißt, wir müssen schauen: Gibt es Fehlstellungen? Gibt es Orte, wo vermehrt Hornhaut entsteht? So können wir verstehen, warum an diesem Ort eigentlich die Wunde entstanden ist. Dazu gehört auch, sich die Schuhe von den Patientinnen und Patienten anzusehen und versucht, erst mal ein Verständnis für die Anatomie zu bekommen. Als nächstes schauen wir, inwieweit die Durchblutung okay ist. Das kann man eigentlich ganz einfach machen, indem man versucht, die Pulsadern am Fuß zu tasten. Leider ist die Aussagekraft nicht so hoch, so dass sich im Regelfall Untersuchungen wie eine Zehen-Druck-Messung oder eine Doppleruntersuchung anschließen. Als drittes schaut man sich die Wunde direkt an und beurteilt, inwieweit die infiziert ist. Ist sie infiziert, wird die Wunde gereinigt und ein Abstrich genommen, gegebenenfalls ist auch ein Antibiotikum nötig. Infizierte Wunden werden im Regelfall täglich behandelt und man versucht mit sogenannten antiseptischen Verbänden, die Infektion zu reduzieren. Wenn der Körper diese Infektion beherrscht, kann man auf die modernen Wundauflagen übergehen und die Behandlung auch mit längeren Abständen durchführen.  

Für mich ist das Entscheidende, dass der Arzt oder die Ärztin nicht nur diese Wunde behandelt oder die Gefäße checkt, sondern dass die sogenannte Druckentlastung realisiert wird. Das machen wir individuell abgestimmt. Hierfür gibt es verschiedene Systeme, von speziellen Filzplatten über Einlagen in Verbandsschuhen bis hin zu komplexen Orthesen. Welches man nutzt, hängt davon ab, wie fit und mobil die Menschen sind. Einem 90-jährigen Patienten kann ich nicht so ein kompliziertes Gerät geben, womit er im schlechtesten Fall stürzt und sich vielleicht noch einen Oberschenkelbruch zuzieht. Letztlich ist wichtig, dass alles, was diagnostiziert wird, auch bewertet werden muss. Wenn zum Beispiel eine Durchblutungsstörung in den Beinen vorliegt, dann muss die auch behandelt werden. Ansonsten können die Wunden nicht abheilen. 

Das klingt nach viel Aufwand für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Im Alltag ist aber oft nicht viel Zeit, eine so umfangreiche Behandlung zu realisieren. Dabei sprechen die Zahlen Bände: Eine Auswertung von 2017 hat ergeben, dass 16 % der Amputationen infolge eines Diabetischen Fußsyndroms verhindert oder zumindest stark verzögert werden können, wenn die Behandlung strukturiert stattfindet. Wie wichtig ist es denn aus Sicht der Ärzte oder Ärztinnen, dass die Behandlung des DFS in die Disease-Management-Programme Diabetes Mellitus Typ 1 und Typ2 integriert worden sind?  

Wir wissen eigentlich, dass die Prävention das Entscheidende ist, um schwere Verläufe zu verhindern oder abzumildern. Kleine Probleme kann man schnell lösen. Große Probleme kann man eben leider nicht mehr so schnell lösen. Deshalb ist es wirklich ein Meilenstein, dass das Diabetische Fußsyndrom in die DMP (Anm. d. Red. Kurz für Disease-Managament-Programme) integriert worden ist. 

Um daran teilzunehmen, müssen Ärztinnen und Ärzte eine sehr hohe Expertise nachweisen. In Berlin wurde diese hohe Expertise an eine externe Zertifizierung von der Deutschen Diabetes Gesellschaft gebunden. Die Arbeitsgemeinschaft Diabetischer Fuß führt diese Zertifizierung seit 20 Jahren durch. Dafür müssen ausreichend hohe Behandlungszahlen, Hospitationen in anderen Kompetenzzentren, Kooperationen mit Radiologen, mit Gefäßmedizinern, mit Orthopädie-Technikern, mit Mikrobiologen und Podologen nachgewiesen werden. Wenn man selbst kein Diabetologe ist, braucht es zusätzlich eine Kooperation mit einem Diabetologen. Zusätzlich muss man entsprechendes Fachpersonal vorhalten und nachweisen, dass die Räume, in denen man diese Patientinnen und Patienten behandelt, auch bestimmten Anforderungen genügen. 

Welche Vorteile hat das für die Patientinnen und die Patienten? 

Der große Vorteil ist, dass das DMP uns Ärztinnen und Ärzten mehr Zeit gibt – nicht nur die notwendige Diagnostik einzuleiten, Therapien durchzuführen, sondern vor Allem die Patientinnen und Patienten über ihr individuelles Risiko aufzuklären. Man muss wirklich sagen, dass viele Betroffene erst lernen müssen, dass sie ihre Füße nicht normal spüren und sie deshalb deutlich mehr aufpassen müssen. Dafür gibt es Schulungen, die in den Praxen angeboten werden können. Darin geht es zum Beispiel darum, wie man seine Nägel pflegt, wie man die Schuhe auswählt, wie man Füße richtig abtrocknet oder ob man bestimmte Pflegemittel benutzen kann. 

Und welche Vorteile hat diese Art der Versorgung für Ärztinnen und Ärzte? 

Wenn Wunden auftreten, muss man kompetent, schnell und effektiv behandeln. Dafür muss ein kompetentes Team vorhanden sein.  So muss man viel organisieren, kommunizieren und die Dinge so früh wie möglich auf den Weg bringen. Das kostet Zeit und damit auch Geld. Ich kann es wirklich nicht hoch genug den Vertretern der Berliner Diabetologen anrechnen: Diese Arbeit wird mittlerweile durch das DMP honoriert. Immer mehr Ärztinnen und Ärzte erklären sich bereit, diese wirklich sehr umfangreiche Arbeit der Zertifizierung auf sich zu nehmen, damit die Patientinnen und Patienten auch mehr ambulante Anlaufstellen haben. Mehr kompetente Anlaufstellen bedeutet: eine frühere Diagnostik und Therapie. Das kommt mir als Klinikarzt zugute: Wir sehen weniger schwere Fälle, denn Amputationen – das ist es, was es zu vermeiden gilt. 

Laut Gesundheitsbericht Diabetes 2023 der Deutschen Diabetes Gesellschaft versterben die Hälfte der Menschen, denen aufgrund des DFS der Fuß amputiert werden musste, innerhalb der nächsten fünf Jahre…

Genau. Die hohe Sterberate ist natürlich ein Thema und zeigt, wie krank diese Menschen oft sind. Aber Sie müssen sich auch vorstellen: Eine Amputation hat enorme Folgen für die Betroffenen selbst, aber auch Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme. Berufstätige können möglicherweise nicht mehr arbeiten gehen. Ältere Menschen werden eventuell nie mehr laufen können.   

Eine große Baustelle ist die Aufklärung der Betroffenen. Viele der Patientinnen und Patienten mit Diabetes wissen beispielsweise nicht um das Risiko eines Diabetischen Fußsyndroms. Welche Rolle spielt die Kommunikation zwischen medizinischem Fachpersonal und Patientinnen und Patienten? 

Unser Problem ist oft die Diskrepanz zwischen Sender und Empfänger. Für uns Ärztinnen und Ärzte ist vieles klar. Die Frage ist immer, was die Menschen wirklich verstanden haben – oder eben auch nicht. Ein Beispiel ist das Gespräch darüber, wie man eine Amputation vermeiden kann. Wenn ich dem Patienten sage: ‚Wenn die Wunde sich verschlechtert, dann kommen Sie bitte her‘, muss ich ihm erklären, was es bedeutet, wenn eine Wunde sich verschlechtert. Wie sieht das aus? Das kann eine Rötung, eine Überwärmung, eine Schwellung, neu aufgetretene Schmerzen sein, dass mehr Sekret entsteht oder dass eine Wunde plötzlich anfängt zu riechen. Als Arzt muss ich das den Patientinnen und Patienten wirklich sehr konkret sagen und beschreiben. Dafür wendet man viel Zeit auf. Aber das lohnt sich. 

Sie sind Chefarzt am Evangelischen Klinikum Königin Elisabeth Herzberge, kurz KEH, in Berlin. Wie sehen Sie die Rolle der Kliniken?

Die Kliniken sind klar der Ort, wo 24/7 schwer und komplex erkrankte Menschen behandelt werden müssen.  Das braucht Struktur. 

Als ich 2009 angefangen habe im KEH die Diabetologie aufzubauen, lag unsere Amputationsrate bei Diabetes bei ungefähr fünfzig Prozent. Davon war knapp ein Drittel Major-Amputation, also Unterschenkel- oder Oberschenkel-Amputation und die anderen zwei Drittel waren sogenannte Minor-Amputation, also Amputationen von Zehen oder Teilen des Fußes. Damals habe ich gedacht: Das kann man ändern und vom Klinikum „grünes Licht“ für mein Projekt bekommen. Wir haben die Orthopädie/Unfallchirurgie um den Schwerpunkt spezielle Fußchirurgie erweitert und in der Gefäßmedizin den Schwerpunkt kritische Extremitätenischämie massiv ausgebaut. Wir sind inzwischen die größte Einrichtung in der Behandlung des diabetischen Fußes der Stadt und bieten das komplette Spektrum auf sehr hohem Niveau an.  

Ich hatte außerdem die Möglichkeit, ein Team aufzubauen, was Patientinnen und Patienten in der Notaufnahme direkt aufsucht und dort schon die ersten Therapieschritte einleitet. 

Weil viele der Patientinnen und Patienten enorme soziale Probleme haben, haben wir vor zwei Jahren ein sogenanntes Case Management eingerichtet. Das heißt, da gibt es Mitarbeitende, die sich um diese Patientinnen und Patienten individuell kümmern und überlegen: Wie geht es weiter mit ihnen? Wie ist die ambulante Betreuung organisiert? Gibt es da etwas, was zu organisieren ist und wer kann das kompetent übernehmen? Das ist teilweise wirklich sehr viel und manchmal denke ich, wir machen mehr Sozialarbeit als Medizin. Aber: der nachhaltige Behandlungserfolg gibt uns Recht. 

Was ich gleich zu Beginn gemerkt habe: Wer langfristig Erfolg haben will, kann bei diesem Krankheitsbild nicht nur in der Klinik agieren. Nötig ist eine kompetente ambulante Betreuung. Deshalb gibt es seit 2012 eine Fußambulanz am KEH. Der Bedarf ist enorm und so ist die Ambulanz inzwischen vermutlich die größte ihrer Art in der Stadt. Wir versuchen für die Patientinnen und Patienten auf Überweisung eine Anlaufstelle zu schaffen. Wenn wir so schnell keine Kapazitäten haben, wie es nötig wäre, können sie sich auch in der Notaufnahme melden. Dort sieht das Wundteam diese Patientinnen und Patienten sehr frühzeitig. Manchmal ist es ein Fehlalarm – das passiert. Mir ist es so lieber. Aber oft ist es genau richtig, dass die Patientinnen und Patienten kommen und dann können wir die weiteren Schritte organisieren.  

Wichtig ist mir, dass die Patientinnen und Patienten, die sich häufig für ihre Krankheit schämen, nicht bewertet werden. Wir akzeptieren die Menschen so, wie sie sind. Ich bin sehr dankbar, dass ich ein  tolles Team habe, was mich dabei unterstützt. 

Sie sind auch Mitglied in der AG Diabetischer Fuß der Deutschen Diabetes Gesellschaft. Wie wichtig ist diese Vernetzung? 

Die AG Fuß ist aus meiner Sicht wirklich ein wichtiger Faktor für die Behandlung des Diabetischen Fußsyndroms. Diese gibt es seit über 20 Jahren und hat sich eben diese strukturierte Behandlung auf die Fahnen geschrieben. Sie gibt die Leitlinien für die Behandlung des DFS heraus. Es gibt ja nicht nur deutsche Leitlinien, sondern auch europäische beziehungsweise internationale Leitlinien. Die AG arbeitet intensiv daran mit und fordert eine strukturierte, aber auch wissenschaftlich fundierte Behandlung immer wieder ein.  

Über die schon genannte Zertifizierung, die aus meiner Sicht beispielgebend ist, haben wir viel erreicht. Wir können uns untereinander besser vergleichen. Und was ich wichtig finde: Die AG Fuß vernetzt sich mit verschiedenen Playern im System. Es geht um die Krankenkassen, es geht um die Rentenversicherungsträger, es geht um andere Fachgesellschaften. Ich sage ein ganz einfaches Beispiel: Ich bin ja nur Arzt und habe von medizinischen Schuhen eigentlich keine Ahnung. Von der AG Fuß gibt es Richtlinien, wie man diese Schuhe richtig verordnet, damit die Patienten so schnell wie möglich versorgt werden können. Damit können wir Ablehnungen aufgrund formeller Fehler, die im Behandlungsablauf sehr störend sind, deutlich reduzieren. 

Die AG Fuß leistet aber auch politische Arbeit, damit die Versorgung der Menschen in Deutschland mit Diabetischem Fußsyndrom verbessert wird. 

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