2023 blicken wir auf zwanzig Jahre Disease-Management-Programme (DMP) zurück. DMP sind strukturierte Behandlungsprogramme, die die Gesundheitsversorgung chronisch kranker Menschen verbessern sollen. Ein Diabetologe und sein Patient berichten über ihre Erfahrungen. Ihr Fazit: Ohne das DMP für Diabetes sähe es wesentlich schlechter aus.
Ich treffe Kurt Krämer im Wartezimmer der Diabetes-Schwerpunktpraxis von Dr. med. Ralf-Uwe Häußler in Berlin-Zehlendorf. Kurt Krämer ist 79 Jahre alt, aber wer ihn sieht, schätzt ihn mindestens zehn Jahre jünger. Und das trotz der chronischen Krankheit, an der er seit über 30 Jahren leidet. Groß und stämmig, mit kräftiger Stimme, die den Urberliner verrät, erzählt der rüstige Rentner von seiner Zeit als Jugendtrainer bei Hertha-Zehlendorf. Da gab es die kleinen Jungs, deren Eltern aus ihnen die neuen Ronaldos und Messis machen wollten, obwohl die Kids nicht die geringste Lust auf Fußball hatten. Und es gab die Kinder, die neben dem Fußballspiel auch noch Geige lernen, Tennis spielen und immer die Hausaufgaben ordentlich machen sollten. „Da kam dann ein total überfordertes Kind an. Der war schon platt, bevor er zum Training gekommen ist“, erinnert sich Krämer. Sie haben ihm leidgetan, diese Kinder, und er hat immer versucht, den Eltern vorsichtig beizubringen, dass sie zu viel von ihrem Nachwuchs verlangen. „Aber das ist unheimlich schwer“, sagt er. Trotzdem hat er weiter gemacht. Denn, das merkt man schnell, wenn man sich mit ihm unterhält: Kurt Krämer ist eine Kämpfernatur.
Auch von seiner Krankheit hat er sich nicht unterkriegen lassen. Er lebt nach dem Motto, das ihm der Arzt im Krankenhaus mitgegeben hat, als er seinen ersten Zusammenbruch hatte. „Diabetes ist eine Scheiß-Krankheit, hat der damals zu mir gesagt“, erinnert sich Krämer. „Du kannst sie behandeln, aber pflege sie nicht.“ Es war das Jahresende 1990. Kurt Krämer hatte viel gefeiert rund um den Jahreswechsel. Gleich zu Beginn des neuen Jahres hatte er dann mit seinen Fußballkindern ein Turnier. „Und da ist mir ganz komisch geworden“, sagt er. „Ich hatte auf einmal furchtbar viel Durst und hab dann Eistee getrunken. Genau das Verkehrte natürlich, da ist ja Zucker drin ohne Ende.“ Er landete dann in der Notaufnahme mit einem bedrohlich hohen Zuckerwert. Eine ambulante Untersuchung kam nicht in Frage, sein Terminkalender war zu voll. Neben seinem Trainer-Hobby war Kurt Krämer hauptberuflich U-Bahn-Fahrer, saß im BVG-Personalrat und engagierte sich für die Gewerkschaft. „Ich war beschäftigt von 7 bis 22 Uhr. Da konnte ich nicht einfach mal einen Arzttermin reinschieben.“ Also wurde er direkt ins Krankenhaus eingewiesen.
Die Krankheit kommt oft schleichend
Der Verlauf der Krankheit, wie ihn der 79-Jährige schildert, ist laut Dr. Häußler typisch für die Krankheit. „Der Typ 2 Diabetes kommt schleichend, wird oft jahrelang nicht erkannt“, erklärt er. „Dann wundern sich die Patienten, dass sie eventuell schon Folgekomplikationen haben, weil über Jahre hinweg Unwohlsein, Mattigkeit oder schnelle Ermüdung einfach fehlgedeutet werden. Gerade Menschen im mittleren Lebensalter schieben das dann gerne auf das Alter und denken, das wird schon normal sein. Aber es ist eben nicht normal.“
Häußler ist Experte auf dem Gebiet des Diabetes. Der 65-jährige gebürtige Unterfranke hat seine erste Station nach dem Medizinstudium im Britzer Krankenhaus von Berlin absolviert. Nach dem Umzug der Abteilung in das Haupthaus des Städtischen Krankenhauses Neukölln (heute Vivantes) hat er dort die Diabetes-Station mit aufgebaut. Sein erster Chef war Professor Horst Gutsche – „man hat ihn auch Zucker-Gutsche genannt“ – eine Koryphäe auf dem Gebiet des Diabetes. Im Laufe seiner stationären Tätigkeit erkannte Dr. Häußler immer mehr, dass Diabetes eigentlich eine ambulant zu behandelnde Krankheit ist. Er beschloss deshalb, sich niederzulassen und eröffnete 1999 eine diabetologische Schwerpunktpraxis in Zehlendorf. „Ich war der erste niedergelassene Diabetologe in Zehlendorf“, erinnert er sich. „Früher war das so: Wenn der Zucker neu entdeckt wurde oder entgleist war, wurde der Patient reflexartig ins Krankenhaus eingewiesen und danach gegebenenfalls in eine stationäre Rehamaßnahme übergeleitet“, sagt Häußler. „Die Schwerpunktpraxen haben dann mehr und mehr einen Puffer gebildet zwischen Hausarzt und stationärer Einrichtung.“
Auch Kurt Krämer muss heute nicht mehr sofort ins Krankenhaus, wenn er in eine bedrohliche oder beängstigende Situation mit seiner Krankheit kommt. Seit neunzehn Jahren ist er bei Dr. Häußler im sogenannten Disease-Management-Programm (DMP) Diabetes. „Wenn was nicht stimmt – und wenn‘s nur eine Kleinigkeit ist – kann ich sofort hierherkommen und kann sagen ‚Hallo, hier ist was, guckt euch das an‘.“ Er hat jetzt eine feste Anlaufstelle und kommt auch regelmäßig – mindestens alle sechs Monate – zur Routineuntersuchung.
„Diabetes-Patienten haben ein höheres Risiko für Folgekomplikationen wie Herzinfarkt, Schlaganfall und verstopfte Beinarterien“, erklärt Dr. Häußler. Sie müssten deshalb engmaschiger untersucht werden. „Und es ist wichtig, sie aufzuklären, dass diese Dinge auftreten können und wie die Symptome sind.“ Diese Aufklärung findet in den DMP unter anderem in den strukturierten Gruppenschulungen statt, aber auch in den Einzelgesprächen. „Wenn ich nicht in dem DMP wäre, würde mir vieles gar nicht auffallen. Oder ich würde eben denken, das geht schon von alleine weg“, bestätigt Kurt Krämer. Aber jetzt habe er gelernt: „Achte drauf, gucke nach und geh im Zweifelsfall zum Arzt.“
“Die Patienten sind selbst auch viel stärker sensibilisiert”
Das „achte drauf und gucke nach“ ist für Diabetiker besonders wichtig, wenn es um ihre Füße geht. „Sie müssen wissen, dass sie zum Beispiel bei einem Fußgeschwür aufgrund ihrer Sensibilitätsstörungen oft gar nicht richtig merken, dass der Fuß stark gefährdet ist“, erläutert der Diabetologe. „In dem Moment, wo ich weiter auf einem Geschwür laufe, weil ich keine Schmerzen empfinde, kann sich das explosionsartig verschlechtern. Es kann sich infizieren und sobald dann ein Infekt in so einem Fußgeschwür ist oder im gesamten Fuß, dann braucht es Fußentlastungsmaßnahmen, antibiotische Maßnahmen bei Infektionen, möglicherweise müssen Gefäße wieder geöffnet werden.“ Mit der regelmäßigen Kontrolle können diese Maßnahmen viel schneller eingeleitet werden. „Und die Patienten sind selbst auch viel stärker sensibilisiert. Sie wissen, sie können nicht einfach sagen: ‚Ach, da suppt es irgendwo aus der Zehe, hm, das wird schon wieder von alleine heilen.‘ Nein, die wissen, sie sind Diabetiker und da müssen sie mit so einem Fußgeschwür in eine spezialisierte Einrichtung.“
Kurt Krämer hat damit auch schon seine Erfahrungen gemacht. „Ja, die Füße“ sagt er. „Die sind ja in die Schuhe eingepackt. Und wenn Sie die Schuhe ausziehen, wer guckt sich denn dann noch die Füße an? Gar keiner. Man wäscht sie und dann hat sich das erledigt.“ Krämer hat gelernt, intensiver hinzugucken: „Ich hatte jetzt eine ganze Weile offene Wunden an den unteren Schienbeinen, was jetzt – toi toi toi – alles zu ist“, sagt er. Das hat er der guten Versorgung und regelmäßigen Fußuntersuchung zu verdanken.
Letztere ist auch Bestandteil des DMP. Aber Untersuchung ist nicht gleich Untersuchung. „Das Problem: Wenn Sie nicht genug Erfahrung damit haben, schauen Sie auf die Füße, da sieht man nichts, also denkt man sich ‚ist alles schick‘. Es ist aber eben nicht alles schick“, sagt Häußler. „Das ist eine sehr komplexe Untersuchung. Die AOK Nordost hat schon vor vielen Jahren erkannt, dass das DMP in der Fußversorgung scheinbar nicht ausreichend ist und hat einen extra Fußvertrag entwickelt. Der ist auch evaluiert worden und hat eine deutlich bessere Versorgung gegenüber nur dem DMP gezeigt“, so Häußler (dazu: „Amputationen gilt es zu vermeiden“). Ein weiterer positiver Effekt: „Wir hatten vorher drei von der Deutschen Diabetesgesellschaft zertifizierte, spezialisierte Fußambulanzen in Berlin. Und mit dem Vertrag hatten wir ein Jahr später schon vierzehn Einrichtungen. Heute sind wir bei über 30 Einrichtungen. Das heißt, in Berlin haben wir ein flächendeckendes ambulantes Angebot. Das ist in Zeiten, wo alle über Ambulantisierung sprechen, ein ganz wichtiges Signal: Wenn man bestimmte Strukturen fördert, können diese auch sinnvoll versorgen und Versorgung auch sicherstellen.“
Leitlinien sind die Leitplanken entlang des DMP-Weges
Diese Strukturen sollten die Disease-Management-Programme, die jetzt im Jahr 2023 ihr zwanzigjähriges Bestehen feiern, in die Versorgung chronisch kranker Menschen bringen. Auf die Frage, weshalb es dafür eigens Programme brauchte, wo es doch klare Leitlinien für die Behandlung gibt, antwortet Dr. Häußler: „Die Leitlinien sind sozusagen die Leitplanken entlang des Weges, den das DMP vorgibt. Ziel dieses Weges ist es, die Patienten zum Spezialisten zu steuern und nicht ins Krankenhaus.“ Das Konzept ist aufgegangen. „Das DMP hat Struktur in die Behandlung des Diabetes gebracht“, so Dr. Häußlers Fazit. „Wir haben gelernt, diese Erkrankung braucht nicht nur den Einsatz, wenn es lichterloh brennt, sondern diese Erkrankung braucht auch den Einsatz, wenn eigentlich scheinbar Ruhe an der Front ist. Dass der Patient dran gewöhnt ist, dass er nicht murrt, wenn er hört, in einem Vierteljahr oder in spätestens sechs Monaten sehen wir uns wieder. Dass er auch einsieht, es ist eine chronische Erkrankung, die ich nicht mehr loswerde, aber die ich gut managen kann.“
Auch für die Ärztinnen und Ärzte und das ganze Praxisteam hätten die DMP vieles vereinfacht: „Jeder weiß, was zu tun ist, wenn der Patient die Praxis betritt.“ Und nicht nur das. „Für uns ist es auch eine ganz wichtige Sache, dass wir uns selbst immer überprüfen können in unserer Behandlungsqualität“, sagt Häußler. Die am DMP teilnehmenden Praxen erhalten Statistiken von der Kassenärztlichen Vereinigung. „Die zeigen uns, wie wir bestimmte DMP-Parameter behandelt haben und mit welchen Erfolgen. Und wenn da nicht alles grün ist, wenn da auch rote Balken dabei sind, müssen wir uns diese Patienten nochmal anschauen.“ In einem sind sich Dr. Häußler und sein Patient Kurt Krämer einig: Ohne DMP sähe die Versorgung wesentlich schlechter aus. „Ich werde nun nächstes Jahr 80 Jahre alt und hoffe, dass es noch ein bisschen weiter geht“, sagt Krämer. Aber da ist er optimistisch: „Ich bin ja gut versorgt.“