„Ein Triple-Win für Patienten, Ärzte und Kassen“

Das Team um Thomas Wulle hat heute Grund zum Feiern. Ihr Programm „electronic Life Saver“ (eLiSA) hat heute den mit 30.000 Euro dotierten MSD-Gesundheitspreis gewonnen. Im Interview erläutert der Programverantwortliche der AOK Nordost, wie eLiSA konkret hilft, das Leben von Patientinnen und Patienten zu retten, die viele Medikamente einnehmen.

Herr Wulle, ein durchschnittlicher Patient, der älter als 40 Jahre ist, bekommt im Laufe von zehn Jahren sehr häufig mehr als 20 verschiedene Arzneimittel-Wirkstoffe verschrieben. Wie oft es kommt es dabei zu gefährlichen Wechselwirkungen zwischen diesen verschiedenen Medikamenten?

Sehr viel häufiger, als man gemeinhin so annimmt. Wir haben im Jahr in Deutschland laut Studien rund 250.000 Krankenhauseinweisungen, weil Patientinnen und Patienten unpassende Medikamente oder Kombinationen eingenommen haben. Dazu kommen je nach Studie zwischen 40.000 und 60.000 vermeidbare Todesfälle pro Jahr durch Medikationsfehler. Nur in Deutschland. Das sind schon erschreckende Zahlen, aber in der Literatur findet man genügend Belege dafür, dass sie zutreffen. Die Ursache ist, dass es heutzutage hunderttausende Kombinationsmöglichkeiten von Medikamenten gibt. Kein Arzt kann alle möglichen Wechselwirkungen zwischen diesen Medikamenten gedanklich beherrschen. Dafür braucht er digitale Unterstützung.

Wer ist eigentlich…Thomas Wulle?

Thomas Wulle leitet bei der AOK Nordost den Fachbereich Controlling und das Programm eLiSa . Zuvor hat er u.a. Erfahrungen im Arzneimittelbereich und der Unternehmensentwicklung gesammelt.

Mit unserem Versorgungsprogramm electronic Life Saver, kurz eLiSa, können Ärztinnen und Ärzte die Arzneimitteltherapie ihrer Patienten und Patientinnen mit Hilfe einer Software auf Wechselwirkungen und Dosierungen überprüfen. Mehr als 600 ambulante Ärztinnen und Ärzte in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern setzen die Software schon ein, mehr als 13.000 AOK-Versicherte profitieren davon. Was bringt eLiSA in der Praxis?

In der Praxis bringt es nach Rückmeldung der Ärztinnen und Ärzte einfach eine größere Sicherheit. Die Software stellt dem Arzt nach Einwilligung durch den Patienten umfassende Abrechnungsdaten zur Verfügung. Konkret kann zum Beispiel der Hausarzt alle Medikamente einsehen, die der Patient in den vergangenen drei Jahren auch von anderen Fachärzten verordnet bekommen hat. Wenn zwei Medikamente zu gefährlichen Wechselwirkungen führen, signalisiert die Software das dem Arzt sofort. Und das führt sehr oft zu Aha-Erlebnissen. Die Ärztinnen und Ärzte, die eLiSA nutzen, lernen das Programm sehr schnell schätzen – denn der Software rutscht keine Wechselwirkung und kein Medikament durch. Sie arbeitet 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche mit der exakt gleichen hohen Qualität.

Die Mitarbeitenden der AOK Nordost und der Barmer stehen vor einem Aufsteller der Aktionsbündnis Patientensicherheit und freuen sich über den Preis.
Auch den Preis für Patientensicherheit des Aktionsbündnis Patientensicherheit hat der electronic Life Saver bereits gewonnen. Foto: Aktionsbündnis Patientensicherheit

Können Sie die Wirkung von eLiSa mit einem Praxisbeispiel verdeutlichen?

Die Patienten gehen ja oft davon aus, dass die Ärzte fortwährend miteinander kommunizieren und jeder alles weiß über ihre gesamte Medikation. Das ist aber oft nicht der Fall. So hat uns eine Hausärztin berichtet, dass sie eLiSa genutzt hat, um die Medikation eines älteren, gesundheitlich angegriffenen Patienten zu überprüfen. Dabei zeigt sich, dass der Neurologe, bei dem der Patient in Behandlung war, ein Neuroleptika verordnet hatte, welches der Hausärztin nicht bekannt war. Dieses Medikament hätte beträchtliche Neben- und Wechselwirkungen mit einem anderen Medikament erzeugt. Die Hausärztin hielt sofort Rücksprache mit dem Neurologen und sorgte dafür, dass die Medikation umgestellt wurde. Damit bewahrte sie den Patienten vor gesundheitlichen Schäden, die bei seinem Allgemeinzustand einen Krankenhaus-Aufenthalt und möglicherweise sogar seinen Tod bedeutet hätten. Das ist ein Triple-Win: Der Patient gewinnt am allermeisten, weil ihn die Software vor einem beträchtlichen Schaden bewahrt hat. Die Ärztin gewinnt, weil sie ihre Versorgung verbessert und so auch vor Regressen geschützt ist. Und auch wir als Krankenkasse gewinnen, weil keine Kosten für einen Krankenhaus-Aufenthalt angefallen sind und unsere Versicherten zufriedener sind.

WIdO-Analyse: Jeder zweiter Mensch erhält potenziell unangemessene Medikamente

Mehr als jeder zweite Mensch über 65 Jahren (50,3 Prozent) hat 2022 ein potentiell inadäquates Medikament verordnet bekommen, dass zu unerwünschten Wechsel- und Nebenwirkungen führen kann. Das geht aus einer Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) hervor. Damit waren insgesamt 8,3 Millionen ältere Menschen davon betroffen. Grundlage der Auswertung sind die verordneten Arzneimittel die auf der Priscus-2,0-Liste verzeichnet sind. In Berlin waren davon 48,6 Prozent betroffen, in Brandenburg spiegelt sich mit 50,4 Prozent der Bundestrend wieder. In Mecklenburg-Vorpommern waren mit 54,7 Prozent die meisten Menschen im Nordost betroffen. Im Rahmen von eLiSa erhält die Ärzt:in entsprechende Hinweise aus der Software.

Ein Haufen bunter Tabletten

Die Bundesregierung will Ärzte verpflichten, ihren Patientinnen und Patienten ab 2025 einen elektronischen Medikationsplan in der elektronischen Patientenakte zur Verfügung zu stellen. Das sieht der Kabinettsentwurf des Gesetzes zur Beschleunigung der Digitalisierung im Gesundheitswesen vor.  Wird das einen Schub für das Thema elektronischer Medikationscheck bewirken?

Zunächst mal freuen wir uns, dass das BMG hier gesetzliche Vorgaben machen will für die digitalisierte Arzneimitteltherapie. Gemeinsam mit der Barmer waren wir im Hintergrund an diesem Gesetzesentwurf mit beteiligt, weil wir dem BMG die guten Erfahrungen aus der Praxis mit dem Medikationscheck vorgestellt haben – aber auch die Hürden benannt haben, die es noch gibt, um den Arzneimittelcheck allen Versicherten zur Verfügung zu stellen.

Insofern ist das, was im Gesetzentwurf steht, ein guter erster Schritt. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren muss aber unbedingt noch verbindlich festgelegt werden, dass Ärzte den digitalen Medikationsplan auch wirklich befüllen müssen. Derzeit ist das oft noch nicht der Fall: Obwohl es schon einen bundeseinheitlichen Medikationsplan gibt, wird der oft nicht gepflegt. Zudem braucht es auch notwendigerweise den zweiten Schritt: Nämlich, dass der Medikationsplan durch eine entsprechende geeignete Software wie eLiSa läuft, die prüft, ob Wechselwirkungen auftreten. Auch das steht derzeit noch nicht im Gesetzesentwurf. Wir bleiben hier am Ball – damit möglichst bald alle Versicherten vor vermeidbaren Wechselwirkungen von Medikamenten bewahrt werden.

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