Familien in Deutschland ging es 2022 schlechter als vor vier Jahren. Das ist das zentrale Ergebnis der AOK-Familienstudie 2022, für die von August bis Oktober vergangenen Jahres 8.500 Mütter und Väter befragt wurden. Besonders Alleinerziehende und Eltern mit einem niedrigen sozioökonomischen Status schätzen ihre Gesundheit in allen Bereichen schlechter und ihre Belastungen höher ein. Die Studie zeigt damit einen klaren Einfluss von Einkommen, Schulbildung und Beruf auf den Gesundheitszustand der befragten Familien. Zu den Erkenntnissen aus dieser Studie äußert sich Daniela Teichert, Vorstandsvorsitzende der AOK Nordost, im Interview.
Frau Teichert, welches Fazit ziehen Sie aus den Ergebnissen der AOK-Familienstudie?
Die Familienstudie legt den Finger in die Wunde: Sie zeigt ganz deutlich, dass es uns trotz vieler Anstrengungen offenbar immer noch nicht gelungen ist, Gesundheit wirklich gerecht zu gestalten. Für eine gerechte Gesundheitsversorgung müssen wir den Zugang zu Angeboten der Gesundheitsberatung, -aufklärung und -förderung möglichst niedrigschwellig gestalten.
Was bedeutet „niedrigschwellig“?
Die Angebote müssen prinzipiell für jeden leicht zugänglich sein – ohne Einschränkungen und ohne zusätzliche Kosten. Wir haben bereits sehr viele gute Angebote, die diesen niedrigschwelligen Ansatz verfolgen: angefangen bei unseren Kita- und Schulprogrammen über das betriebliche Gesundheitsmanagement, kostenfreie Ernährungs- und Bewegungskurse bis hin zur ambulanten Sturzprävention und dem gut ausgebauten Netz der Pflegestützpunkte.
Wer ist… Daniela Teichert?
Daniela Teichert ist seit 2020 Vorstandsvorsitzende der AOK Nordost. Als Sozialversicherungsfachangestellte hat sie vor mehr als 30 Jahren das Krankenkassen-Geschäft an der Basis gelernt. Es folgten Stationen in verschiedenen Führungspositionen und als Mitglied der Geschäftsleitung. Als Vorständin der größte regionale Krankenkasse setzt sie sich für die patientenzentrierte und zukunftsfähige Versorgung der Menschen ein – von der Lausitz über Berlin-Lichtenberg bis nach Rügen.
Woran hakt es Ihrer Meinung nach?
Nehmen wir zum Beispiel die Flächenländer Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern im Vergleich mit der Metropole Berlin. ‚Niedrigschwellig‘ auf dem Land kann schon bedeuten, dass ich überhaupt eine Möglichkeit habe, entsprechende Angebote zu nutzen – auch wenn ich beispielsweise in einem 100-Seelen-Dorf lebe, kein Auto habe und mich nur schlecht fortbewegen kann. Die Studie hat ja gezeigt, dass nicht nur der soziökonomische Status, sondern auch der Wohnort einen Einfluss auf den Gesundheitszustand hat. Menschen, die in strukturschwachen Regionen leben, weisen ebenfalls schlechtere Werte auf. In Berlin wiederum gibt es eine Vielzahl von Angeboten der Gesundheitsberatung, -aufklärung und -förderung, die mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen sind. Und dennoch werden diese Angebote offenbar genau von den Menschen immer noch nicht genutzt, die am meisten davon profitieren könnten.
Warum ist das so?
Da kommen verschiedene Sachen zusammen. Zum einen haben diese Angebote eines gemeinsam: Die Menschen müssen sie aktiv in Anspruch nehmen. Sie müssen anrufen, Termine vereinbaren, hingehen. Und das ist für viele schon die erste Hürde. Sprachbarrieren, Schamgefühl oder einfach ein fehlendes Bewusstsein für die eigene mangelnde Gesundheitskompetenz sind weitere Hürden. Das ist ein Teufelskreis: Wenn mir die Gesundheitskompetenz fehlt, erkenne ich nicht, dass ich ungesund lebe oder ich weiß nicht, wie ich das ändern kann. Das wird wiederum von der Werbeindustrie schamlos ausgenutzt, indem sie den Menschen beispielsweise vorgaukelt, dass die schmackhaften und ballaststoffreichen Frühstückscerealien super gesund sind für ihre Kinder. Vier von fünf befragten Eltern wünschen sich klare Vorgaben der Bundesregierung an die Lebensmittelindustrie, um die Auswahl der Lebensmittel nach Umwelt- und Gesundheitsaspekten zu erleichtern. Die AOK Nordost setzt sich zudem für eine Werbebeschränkung für ungesunde Kinderlebensmittel ein.
Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, diese Menschen zu erreichen?
Ja, davon bin ich überzeugt. Nehmen wir unsere Kita- und Schulprogramme. Die AOK-Familienstudie hat gezeigt, dass es 87 Prozent der Eltern wichtig ist, dass die Kinder etwas über klima- und umweltfreundliche Ernährung in der Schule lernen. Mit JolinchenKids, Henrietta & Co, WildGreen und der GemüseAckerdemie bringen wir den Kindern schon im Kita- und Grundschulalter die wichtigen Gesundheitsthemen Ernährung, Bewegung und seelisches Wohlbefinden näher.
In der Kita und in der Schule werden entscheidende Weichen gestellt. Und wir erreichen dort auch Kinder aus sonst schwer zugänglichen sozialen Kreisen. Deshalb setzt sich die AOK Nordost dafür ein, Wissensvermittlung zur gesunden Ernährung verpflichtend in die Lehrpläne der Schulen aufzunehmen – und zwar fächerübergreifend.
Was macht den Erfolg dieser Programme Ihrer Meinung nach aus?
JolinchenKids, Henrietta, WildGreen, die GemüseAckerdemie, aber auch das betriebliche Gesundheitsmanagement – diese Programme sind erfolgreich, weil sie dort stattfinden, wo die Menschen sich aufhalten: in der Kita, in der Schule, auf der Arbeit. Niedrigschwelliger geht es kaum. Es ist dieser Ansatz der ‚Prävention in Lebenswelten‘, der meines Erachtens noch viel Potenzial birgt und den wir noch stärker verfolgen sollten.
So sind auch die geplanten Gesundheitskioske eine gute Idee. Sie stehen für das Prinzip einer gerechten Versorgung durch niedrigschwelligen Zugang für alle und das können wir als AOK Nordost nur unterstützen. Aber wir müssen sie dort etablieren, wo sie tatsächlich einen Unterschied machen könnten – zum Beispiel in besonders strukturschwachen oder anderweitig benachteiligten Kommunen oder Stadtteilen. Und dann ist da natürlich noch die Frage der Finanzierung.
Was ist… ein Gesundheitskiosk?
In einem Gesundheitskiosk können sich alle Bürgerinnen und Bürger zu gesundheitlichen und sozialen Themen beraten lassen. Angedacht ist auch, dass vor Ort einfache medizinische Leistungen wie Blutdruck messen angeboten wird. Die ersten Gesundheitskioske wurden bereits 2017 in sozial benachteiligten Stadtteilen von Hamburg eingerichtet. Nach einem ersten Arbeitsentwurf zur gesetzlichen Umsetzung ist geplant, die niedrigschwelligen Beratungsangebote für Behandlung und Prävention auf Initiative der Kommune zu etablieren. Die Gesundheitskioske sollen dann im Zusammenwirken von Kommunen und GKV unter Beteiligung der PKV errichtet werden. Die Finanzierung dieser Einrichtungen ist noch umstritten.
Der aktuelle Gesetzesentwurf sieht vor, dass die Gesetzliche Krankenversicherung 74,5 Prozent, die Kommunen 20 Prozent und die Private Krankenversicherung die restlichen 5,5 Prozent der Kosten für die Gesundheitskioske übernehmen…
Viele Aufgaben, die die Gesundheitskioske übernehmen sollen – beispielsweise die Verzahnung der verschiedenen Sozialleistungen oder die Unterstützung wohnungsloser Menschen – liegen in der gesamtgesellschaftlichen oder staatlichen Verantwortung. Das heißt, sie können nicht zum großen Teil mit dem Geld der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler der Gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden. Kommunen und Kassen sollten paritätisch an der Errichtung beteiligt sein und andere Sozialversicherungsträger sollten dringend verbindlich mit einbezogen werden – auch finanziell. Außerdem muss darauf geachtet werden, dass keine Doppelstrukturen aufgebaut werden. Das können wir uns als Gesellschaft nicht leisten, weil jede Gesundheitsfachkraft und jeder Euro dringend gebraucht werden.
Was schlagen Sie vor?
Wir müssen durch Vernetzung und Kooperation vorhandene Ressourcen sinnvoll einsetzen und bereits etablierte Strukturen – wie beispielsweise das gut ausgebaute Netz an Pflegestützpunkten – viel effizienter nutzen. Und in diesen Kooperationen können wir den Ansatz der ‚Prävention in Lebenswelten‘ noch verstärken. Ein gutes Beispiel ist das geplante Innovationsfondsprojekt NAVIGATION, an dem wir beteiligt sind. Initiator und Projektführer ist das Stadtteilgesundheitszentrum Neukölln, das gerade auch den Berliner Gesundheitspreis 2023 gewonnen hat. Der vom AOK-Bundesverband und der Ärztekammer Berlin verliehene Preis stand dieses Jahr unter dem Motto „Gesundheit gerecht gestalten“. Und genau darum wird es auch bei NAVIGATION gehen, wenn das Projekt eine Förderzusage erhält.
NAVIGATION – ist der Name Programm?
Das kann man so sagen. Wir wollen damit die Versorgung für eine besonders vulnerable Gruppe verbessern. Es geht um Menschen, die über eine geringe Gesundheitskompetenz verfügen und bei denen körperliche und psychische Beschwerden mit schwierigen sozialen Umständen zusammenspielen. In der Fachsprache nennt man das einen hohen biopsychosozialen Bedarf. Und besonders diese Menschen erreichen wir nur ganz schwer, sowohl in der Vorsorge als auch in der ambulanten Versorgung.
Und NAVIGATION soll diese Probleme lösen?
Ich bin der Meinung, dass wir gerade die schwer erreichbaren Zielgruppen noch stärker persönlich ansprechen sollten. In NAVIGATION wird dieser Ansatz der persönlichen Ansprache jedenfalls eine zentrale Rolle spielen. Community Health Nurses sollen dort diese Menschen in ihrem Lebensumfeld aufsuchen – ob nun zu Hause oder in den Straßen ihres Kiezes. Das ist ja das Gute an Innovationsfondsprojekten: Sie geben den Spielraum, Versorgungsmodelle auszuprobieren, deren Umsetzung unter den gegebenen finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen sonst äußerst schwierig oder gar unmöglich wäre.