„Ich sehe immer mehr Schwangere, die ein Risiko mitbringen“ 

Erkrankungen rund um die Schwangerschaft können gefährlich für Mutter und Kind werden. Frauenärztin Kerstin Runiewicz erläutert, warum Früherkennung so wichtig ist – und warum besonders eine Erkrankung immer noch viel zu oft tabuisiert wird. 

Frau Runiewicz, das Durchschnittsalter der Schwangeren steigt und damit auch die Risiken für Schwangerschaftserkrankungen. Wie reagieren Sie als Frauenärztin auf diese Entwicklung? 

Bei Frauen ab 35 Jahren steigt das Risiko für Erkrankungen in der Schwangerschaft. Deshalb kläre ich die Frauen zunächst auf und berate sie über die Möglichkeiten der Früherkennung. Sie werden engmaschiger untersucht als jüngere Schwangere und wenn es aus präventiver Sicht sinnvoll ist, empfehle ich den Frauen gegebenenfalls den Lebensstil zu ändern und berate sie dazu. Das ist eine ganz vielfältige Sache, daraus resultiert insgesamt auch ein höherer Betreuungsaufwand. 

Wer ist… Kerstin Runiewicz?

Kerstin Runiewicz ist Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Sie betreibt im AOK-Ärzt:innenhaus Centrum für Gesundheit eine gynäkologische Praxis. 

Unsere Datenanalyse zeigt, dass der Anteil der Frauen, bei denen ein Schwangerschaftsdiabetes diagnostiziert wurde, seit 2016 stark zugenommen hat. Rund 10 Prozent der AOK-versicherten Schwangeren in Berlin, Brandenburg und MV litten 2021 daran. 2016 waren es noch rund 7 Prozent. Besorgt Sie das?

Das besorgt mich sehr. Denn zum einen bedeutet ein Gestationsdiabetes ein Risiko für den Verlauf der Schwangerschaft. Und zum anderen steigt damit auch das Risiko für weitere Schwangerschaftserkrankungen. Ich sehe immer mehr schwangere Patientinnen, die ein Risiko dafür mitbringen, zum Beispiel, weil sie übergewichtig beziehungsweise adipös sind oder weil sie sich zu wenig bewegen. Letztlich bedeutet eine Erkrankung auch ein Risiko für das Kind und muss entsprechend behandelt werden. 

Kann man den Anstieg der Fallzahlen auch darauf zurückführen, dass das Screening auf diese Erkrankung viel häufiger durchgeführt wird als noch 2016? Ist das nicht auch eine gute Nachricht – weil die Erkrankung häufiger entdeckt wird und die Dunkelziffer kleiner geworden ist? 

Das kann man so sehen. Wenn ein Gestationsdiabetes vorliegt, ist es sinnvoll, ihn frühzeitig zu entdecken. Nur dann können rechtzeitig Maßnahmen ergriffen werden, um die Zuckerwerte der Mutter zu regulieren und den Stoffwechsel richtig einzustellen. Komplikationen können somit im besten Fall verhindert werden, zum Beispiel auch ein sehr hohes Geburtsgewicht des Kindes oder Anpassungsstörungen des Neugeborenen. 

Was können Sie für die Schwangeren tun, bei denen Sie die Erkrankung durch ein Screening festgestellt haben? 

Hier gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, die ineinandergreifen. Durch das Vorsorgeprogramm baby on time kann ich AOK-Versicherten Risiko-Schwangeren  kostenlos einen Blutzuckertest anbieten – und zwar unmittelbar, nachdem die Schwangerschaft festgestellt wurde. Wenn der Test zeigt, dass ein Gestationsdiabetes vorliegt, berate ich die Schwangere über die Erkrankung und wie sie mit einer Änderung ihres Lebensstils schon eine Verbesserung erreichen kann. Gleichzeitig erfolgt eine Überweisung an eine Diabetologie-Praxis. Dort kann gegebenenfalls eine Insulintherapie eingeleitet werden. Insulinpflichtige Schwangere werden dann auch in ein Perinatalzentrum eingebunden, um engmaschig betreut zu werden.  

Gibt es einen Zusammenhang zwischen mehr älteren Schwangeren, steigenden Zahlen für Diabetes und zunehmenden Fällen für Präeklampsien? 

Ja, natürlich. Ein Schwangerschaftsdiabetes ist einer der Risikofaktoren für eine Präeklampsie. Es gibt aber noch weitere Faktoren, die eine Entstehung begünstigen können: zum Beispiel das Alter der Frau, Mehrlingsschwangerschaft oder schon bestehende Blutgerinnungsstörungen. Eine ganz genaue Ursache ist noch immer nicht restlos geklärt. Wir nehmen an, dass Gefäßprobleme in der Placenta beteiligt sind.

Eine typische Erkrankung nach der Entbindung ist die Wochenbettdepression. Jede sechste bis zehnte Frau leidet laut aktueller Studienlage darunter. Ist das Thema noch sehr schambehaftet? 

Das Thema kommt zwar langsam aus der Tabuzone heraus. Denn es wird in der Gesellschaft zum Glück auch offener über allgemeine Depressionen gesprochen und aufgeklärt. Dies trifft aber noch zu wenig auf das Wochenbett zu. Hier gehen wir von einer hohen Dunkelziffer der ärztlich diagnostizierten Fälle aus. Laut unseren Abrechnungsdaten holten sich 2021 rund vier Prozent der Schwangeren ärztliche Hilfe wegen einer Wochenbettdepression. Tatsächlich dürften circa dreimal so viele Frauen darunter leiden. 

Woran liegt es, dass sich so wenige Frauen ärztliche Hilfe holen? 

Familie und Freunde sind mitunter nicht hilfreich. Eine Mutter, die sich nicht über ihr Wunschkind freuen kann – das ist für Angehörige oft schwer nachzuvollziehen. Kommentare wie „Freu dich doch mal über das Baby“, bestärken nur noch die Schuldgefühle der Frau und ihre Versagensängste. Zum Teil fehlt ihnen das Wissen und vermutlich oft auch die Kraft, sich Hilfe außerhalb der Familie zu organisieren. Hier muss man auch deutlich unterscheiden zwischen dem kurzzeitigen Babyblues, den jede Frau durch den starken Hormonabfall nach einer Geburt durchlebt, und einer echten Depression. Eine Wochenbettdepression ist eine ernste Erkrankung, die psychotherapeutische und teilweise auch medikamentöse Therapie erforderlich macht, um der Frau langfristig zu helfen. 

Haben Schwangere heute höhere Erwartungen an die perfekte Geburt und das Wochenbett? 

Ich beobachte zwei Entwicklungen: Im Internet und in den sozialen Medien wird das Thema Geburt und Mutterschaft häufig in rosaroten und hellblauen Farben gezeichnet. Das schürt bestimmte Erwartungen und führt zu Enttäuschungen, wenn die Realität anders aussieht. Ich sehe aber auch, dass Frauen heute mehr wissen und weniger Hemmungen haben, Hilfe anzunehmen. Dazu gehört auch eine aufgeklärte, informierte Frau. Hier kommt den Hebammen eine große Bedeutung zu, weil sie die Frauen schon im frühen Wochenbett begleiten. Wir Gynäkologinnen sehen die Frauen ja erst sechs bis acht Wochen nach der Geburt. Bis dahin kann sich eine Wochenbettdepression schon manifestiert haben. 

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