„Sucht ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“

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10.000 Menschen suchen in Mecklenburg-Vorpommern jährlich eine Suchtberatungsstelle auf – Tendenz steigend. Die Landeskoordinierungsstelle für Suchtthemen (LAKOST) ist zuständig für die Suchtprävention und Suchthilfe in Mecklenburg-Vorpommern und versteht sich selbst als Bindeglied zwischen den Kommunen und dem Land. Im Interview spricht Geschäftsführerin Birgit Grämke über die appgestützte Suchtprävention an Schulen, Abwasseranalysen und was im Gesetz zur Cannabis-Legalisierung zu kurz kommt.

Frau Grämke, bei Mecklenburg-Vorpommern denkt man eher an Urlaub und schöne Ostseestrände und weniger an große Drogenhotspots. Aber hat Mecklenburg-Vorpommern auch ein Drogenproblem?

Wir haben um die 10.000 Klientinnen und Klienten, die Suchtberatungsstellen aufsuchen, davon sind etwa 1000 auch Angehörige. Die Hauptproblematik in MV ist immer noch Alkohol. Obwohl hier die Zahlen in den vergangenen Jahren ein Stück weit zurückgegangen sind. Bei illegalen Drogen sind jedoch steigende Zahlen zu verzeichnen, besonders bei Cannabis. Außerdem findet immer häufiger auch ein Mischkonsum statt. Das bedeutet, dass immer mehr Menschen mehrere Drogen nehmen. Viele Menschen nehmen zum Beispiel Amphetamine, um wach zu bleiben und Party zu machen und wenn sie dann mal schlafen wollen, konsumieren sie Cannabis, um sich wieder runterzufahren. Eine Veränderung sehen wir auch in der Zeit nach der Corona-Pandemie: Es kommen immer mehr Menschen in die Suchtberatung, die noch erwerbstätig sind. Vor Corona hatten wir mehr Klienten, die nicht berufstätig waren.

Woran liegt das?

Sicherlich hat Corona dazu beigetragen. Viele arbeiten im Homeoffice oder waren in Kurzarbeit. Die Schulen waren zu und die Kinder zuhause. In dieser Zeit haben einige Menschen angefangen zu konsumieren und haben gedacht, dass sie danach auch wieder aufhören können. Sie merken jetzt, dass sie das nicht schaffen. Auf der anderen Seite verändert sich natürlich auch das Arbeitsleben. Wir haben beispielsweise beim Pflegepersonal eine sehr hohe Arbeitsbelastung. Es spielt auch eine wesentliche Rolle, wie gesund das Betriebsklima ist. Manche Menschen greifen dann zu Mitteln, um abends schlafen zu können. Wir haben Klienten aus allen Bereichen dabei: Von der Polizei, Rechtanwälte, Ärzte – die Sucht ist in Mecklenburg-Vorpommern in der Mitte der Gesellschaft angekommen. 

Birgit Grämke ist staatlich anerkannte Diplom-Sozialpädagogin. Seit 2008 ist sie bei der Landeskoordinierunggstelle für Suchtthemen Mecklenburg-Vorpommern (LAKOST MV), zunächst als Referentin für Mediensucht, später als Referentin für Suchthilfe. Seit Anfang 2023 ist sie Geschäftsführerin von LAKOST MV.

Bei Präventionsangeboten ist es wichtig, Menschen dort zu erreichen, wo sie sind. Ein Beispiel ist die ‚Appgestützte interaktive Suchtprävention“ an Schulen – ein gemeinsames Projekt von LAKOST, des Ministeriums für Bildung und Kindertagesförderung Mecklenburg-Vorpommern und der AOK Nordost. Um was geht es da genau?

Wir haben in der ‚Appgestützten interaktiven Suchtprävention‘ zwei sogenannte Parcours: Einmal zum Thema Alkohol und einmal zu Cannabis und illegale Drogen. Das ist eine 90-minütige Veranstaltung speziell für Schülerinnen und Schüler. Diese beginnt mit einem Einführungsvortrag, dann arbeiten sie eine halbe Stunde auf dem Tablet interaktiv zu verschiedenen Fragen und Themenbereichen. Am Ende wird dann ausgewertet und den Schülerinnen und Schülern auch gespiegelt, welche fünf von ihnen die besten Ergebnisse erzielt haben. Danach gibt es noch ein Spiel, so ähnlich wie „Wer wird Millionär?“. Es ist wirklich ein zeitgemäßer Zugang, weil die Schülerinnen und Schüler über die Apps Wissen aufnehmen und danach die Möglichkeit haben, in den Austausch zu gehen. So nehmen sie aus den 90 Minuten viel Wissen mit, ohne dass sie wirklich merken, dass sie dieses vermittelt bekommen. Wichtig ist, dass alles ohne erhobenen Finger abläuft. Es soll ein offenes Miteinander sein. Oft sprechen die Schülerinnen und Schüler dann auch ganz offen über ihre ersten Erfahrungen. Die Auswertungen im Nachgang zeigen auch, dass die Schülerinnen und Schüler Wissen mitnehmen und es ihnen Spaß gemacht hat. Ich glaube, mit dieser Kombination haben wir schon viel erreicht.

Wenn Sie sagen „ohne erhobenen Finger“: Wie wichtig ist es, hier ohne Vorwürfe und Belehrungen auf Augenhöhe mit den jungen Heranwachsenden umzugehen?

Das ist unglaublich wichtig. Früher sagte Suchtprävention eins aus: ‚Das ist alles ganz schrecklich!‘. Aber damit kommen wir nicht weiter. Es wird konsumiert und das wird es in der Gesellschaft immer geben. Uns geht es darum, dass sich die Jugendlichen Wissen aneignen. Nur dann können sie mit dem Wissen entscheiden: Will ich konsumieren oder lieber nicht? Oder auch: Wie konsumiere ich eigentlich? Wenn ich gar nicht weiß, was bestimmte Substanzen bei mir bewirken oder was mir auch passieren kann, wovon ich schneller abhängig werde oder vielleicht auch nicht – dann tappen manche Jugendliche auch einfach im Dunkeln. Ihnen wird in der Gruppe irgendetwas angeboten und sie nehmen das einfach. Es funktioniert nicht, ihnen das zu verbieten. Wir kennen das sicherlich alle noch: Was die Eltern verbieten, ist besonders spannend. Wir müssen auf Augenhöhe mit den Jugendlichen reden. Wir müssen ihnen vermitteln, dass wir auf der einen Seite verstehen, dass sie Spaß haben wollen, dass sie aber auch auf der anderen Seite darauf achten müssen, was sie nehmen. Muss es gleich eine Tablette sein, von der ich nicht weiß, was noch drinsteckt? Oder ist der Joint vielleicht das kleinere Übel? Es geht auch darum, dass Jugendliche mit mehr Wissen auch nach gesundheitlichen Aspekten konsumieren können.

Was meinen Sie damit?

Ein Beispiel: Wenn ich eine Ecstasy-Tablette bekomme, weiß ich ja nicht welche Stoffe untergemischt worden sind oder wie hoch die Dosierung ist. Das ist ein großer Risikofaktor. Deswegen wäre es klug, vielleicht erst mal nur ein kleines Stück der Tablette zu nehmen und zu schauen, wie es mir damit geht. Oder: Zu einer Ecstasy-Tablette sollte ich nicht noch Alkohol trinken. Sie sollen lernen, abzuwägen und sich selbst zu fragen: Wie viel Risiko ist mir der Rausch wert? Aber das können sie nur einschätzen, wenn sie vorher wissen, welche Risiken es gibt.

Die Heranwachsenden sollen also befähigt werden, eine Entscheidung zu treffen?

Genau. Erst einmal müssen wir ihnen aufzeigen, dass sie immer eine Entscheidung haben. Und dass sie, wenn sie sich entscheiden zu konsumieren, die Risiken abwägen können. So schützen wir sie davor, unwissentlich in Dinge reinzugeraten. Und letztlich geht es auch darum, ihnen aufzuzeigen, wo sie Hilfe finden, beispielsweise anonym bei Suchtberatungsstellen, wenn sie merken, dass ihr Konsum oder der eines Freundes nicht mehr gesund ist. Allerdings geht es auch noch um andere Dinge, wie: Jemand im Vollrausch wird nicht alleine gelassen. Oder wie geht eigentlich die stabile Seitenlage für eine Notsituation? Auch dieses Wissen wird in dem Programm vermittelt.

Der NDR hat im Juni drei Wochen lang das Abwasser der vier größten Städte in Mecklenburg-Vorpommern analysieren lassen, bei der die Drogenkonzentration gemessen wurde. Danach findet sich im Abwasser von Neubrandenburg, Rostock und Schwerin mehr Speed als in dem von Amsterdam. Eine Erkenntnis ist, dass Amphetamin stärker als andere illegale Drogen auf dem Vormarsch ist. Ist das auch Ihre Wahrnehmung?

Wir finden diese Abwasseranalyse sehr gut. Sie bestätigt nämlich genau das, was wir auch vermutet haben: Dass Amphetamin auf dem Vormarsch ist. Das bestätigen auch unsere Suchtberater. Auch Ecstasy ist wieder mehr im Kommen – das war eine ganze Zeit lang nicht mehr so verbreitet. Spannend wäre, eine solche Untersuchung regelmäßig durchzuführen und zu schauen, ob zum Beispiel Kokain vermehrt am Wochenende als Partydroge konsumiert wird und der Wert in der Woche vielleicht niedriger ist. Was die Analyse ganz klar gezeigt hat: Die Drogen sind da. Wir dürfen davor nicht die Augen verschließen, indem wir uns einreden, Mecklenburg-Vorpommern ist so ein schönes kleines touristisches Bundesland und bei uns gibt’s das alles nicht. Damit müssen wir offen umgehen und gucken, wie wir Präventionsangebote schaffen können und auch Anlaufstellen für Menschen, die Hilfe suchen.

Eine Auswertung der Daten der AOK Nordost hat ergeben, dass bereits 13-Jährige wegen Drogenkonsums ärztlich behandelt werden müssen. Haben Ihrem Empfinden nach auch immer jüngere Menschen ein Drogenproblem?

Der Einstieg ist schon ziemlich früh. Etwa 3,5 Prozent der Klientinnen und Klienten in der Suchtberatung sind unter 18 Jahre – und da reden wir wirklich von einer Suchtthematik und nicht von den Jugendlichen, die mal einen Joint geraucht haben. Bei Ihnen geht es meistens um Alkohol oder Cannabis. Ich weiß nicht, ob das daran liegt, dass zu wenig Freizeitangebote vorhanden sind. Dann bringt einer in der Gruppe etwas was mit und die Minderjährigen probieren das aus. Entzugskliniken bestätigen, dass das Klientel immer jünger wird. Die berichten, dass die neue Generation nicht so ängstlich ist. Sie probieren alles aus und haben keine Angst davor, dass etwas schiefgehen könnte. Sie nehmen dann mal die eine Droge, mal die andere. Dann kommt es eben auch zu dem schon beschriebenen Mischkonsum. Das hatten wir vor Jahren noch nicht so.

Die Legalisierung von Cannabis wird heiß diskutiert – was sagen Sie dazu?

Es wird höchste Zeit, den Konsum zu Entkriminalisieren. Wir bewegen uns in einem Spannungsfeld zwischen ‚So wie es jetzt war, kann es nicht bleiben‘, aber der Gesetzentwurf, der aktuell vorliegt, ist jetzt auch noch nicht ganz der richtige. Aus unserer Sicht kommen der Jugendschutz und die Prävention viel zu kurz. Alles, was mal als verpflichtend in dem Entwurf stand, ist jetzt schwammig umschrieben mit ‚könnte‘, ‚sollte‘ und ‚müsste‘. Dann muss man nämlich kein Geld anfassen. Die Kernaussage war immer: ‚Wenn wir Cannabis legalisieren, halten wir mit ganz viel Prävention dagegen!‘ Das ist leider nicht mehr so. Es gibt keine Gelder für die Länder. Deswegen sind wir extrem froh, dass wir durch die Unterstützung mit unserer App gerade im Bereich Cannabis und illegale Drogen an Schulen weiterarbeiten können. Wir sehen im Moment nämlich noch nicht, dass wir mit einem anderen Angebot dagegenhalten können. Das finde ich schwierig. Ich sehe auch noch nicht, wie dadurch dem illegalen Markt Einhalt geboten werden soll. Wer soll das kontrollieren? Die Ordnungsämter kommen beim Alkohol schon nicht hinterher. Ich finde, das Gesetz ist noch nicht bis zum Ende durchdacht.

Erwarten Sie höhere Konsument*innenzahlen durch die Entkriminalisierung von Cannabiskonsum?

Ja. Klar, es wird jetzt schon viel konsumiert. Aber dadurch, dass es bisher immer noch einen Verbotscharakter hat, gibt es immer noch eine kleine Hemmschwelle. Wenn der Konsum aber legal ist, müssen wir in der Prävention auch ganz anders an Eltern herantreten. Sie müssen verstehen, dass es etwas Anderes ist, ob ich als Erwachsene kiffe, oder ob ich als unter 25-Jährige kiffe, denn erst ab da ist das Gehirn ausgereift und relativ robust gegen Einflüsse wie denen von Tetrahydrocannabinol. Dafür müssen wir bei den Eltern das Bewusstsein schaffen. Mehr Konsum insgesamt führt dann auch dazu, dass mehr Menschen ungesund konsumieren oder sie eben süchtig werden. Das wird nicht ausbleiben.

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