„Die Ampel sollte mehr Digitalisierung im Gesundheitswesen wagen“

Anne Paschke. Foto: Max Fuhrmann / TU Braunschweig

Als „Fortschrittskoalition“ bezeichnet sich die Ampel selbst. Doch wieviel Fortschritt bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens enthält der Koalitionsvertrag? Die eHealth-Expertin Prof. Anne Paschke sieht in ihrer Analyse viel Licht – aber auch Schatten.

Frau Prof. Anne Paschke, SPD, Grüne und FDP haben sich in den Koalitionsverhandlungen darauf verständigt, Innovation zu ermöglichen und die Digitalisierung des Gesundheitswesens voranzutreiben. Reicht das, was im Koalitionsvertrag zur Digitalisierung des Gesundheitswesens steht, aus, um diesem Anspruch gerecht zu werden?

Der Koalitionsvertrag enthält viele wichtige Ideen und knüpft dabei auch an das an, was der wissenschaftliche Beirat für Digitale Transformation der AOK Nordost in seinen Positionspapieren und Impulsen empfohlen hat. Hierzu zählt etwa, Digitalkompetenzen besser zu vermitteln, Telemedizin auszubauen, Gesundheitsdaten stärker zu nutzen und die flächendeckende Einführung der elektronischen Patientenakte zu beschleunigen.

Die neue Koalition profitiert hierbei jedoch auch von den ambitionierten Vorarbeiten des Bundesgesundheitsministeriums in der letzten Legislaturperiode. Ich denke da an das Digitale-Versorgung-Gesetz, das Patientendatenschutzgesetz oder das Gesetz zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege. Gleiches gilt für die praktischen Maßnahmen, welche in der Datenstrategie der Bundesregierung vom 27. Januar 2021 im Zusammenhang mit dem Datenraum Gesundheit näher beschrieben sind und durch das Ministerium initiiert wurden.

Leider fehlen im Koalitionsvertrag entsprechende innovative Ideen zur praktischen Modernisierung und Verbesserung des ohnehin derzeit angeschlagenen Gesundheitssystems, um insbesondere in Arztpraxen und Krankenhäusern einen effektiven kurzfristigen digitalen Wandel zu bewirken.

Anne Paschke. Foto: Max Fuhrmann / TU Braunschweig

Prof. Dr. Anne Paschke ist Universitätsprofessorin für Öffentliches Recht und Technikrecht an der TU Braunschweig, einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Vor kurzem wurde sie in die „Agile 50 List – The World’s most influential people navigating disruption“ des Weltwirtschaftsforums aufgenommen. Sie ist zudem Mitglied des wissenschaftlichen Beirats für digitale Transformation der AOK Nordost. Der Beirat veröffentlicht regelmäßig Standpunktpapiere zu aktuellen Digitalthemen und berät die AOK Nordost unabhängig zu Digitalthemen.

Der Absatz zur Digitalisierung selbst ist knapp gehalten, er beginnt mit dem Satz: „In einer regelmäßig fortgeschriebenen Digitalisierungsstrategie im Gesundheitswesen und in der Pflege legen wir einen besonderen Fokus auf die Lösung von Versorgungsproblemen und die Perspektiven der Nutzer:innen.“ Hat man sich da einfach vertagt, anstatt selbst eine solche Strategie auszuformulieren?

Redlicherweise darf man nicht erwarten, dass die Arbeitsgrundlage der Regierung bereits alle Lösungen enthielte, die es in den zuständigen Ministerien in Zusammenarbeit mit Praktiker*innen und Wissenschaftler:innen nunmehr für die nächsten Jahre zu entwickeln gilt. Allerdings zeigt dieser Abschnitt bereits einen angestrebten rechtliche Paradigmenwechsel. Demnach soll nämlich die Einführung der elektronischen Patientenakte über eine Opt-Out-Regelung beschleunigt werden. Damit wird jede Patientin bzw. jeder Patient in die elektronische Patientenakte aufgenommen, sofern er oder sie dem nicht aktiv widerspricht. Außerdem soll durch ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz der Zugang zu Daten für die Wissenschaft in Deutschland verbessert werden. Dies ist mit Blick auf die aktuelle Praxis dringend notwendig, auch um wichtige Zukunftsfelder – wie die Präzisionsmedizin – in Deutschland voranzutreiben.

Welche konkreten Maßnahmen, die in dem Koalitionsvertrag fehlen, sollten im Rahmen einer solchen Digitalisierungsstrategie aus ihrer Sicht in der kommenden Legislatur umgesetzt werden?

Es wäre zunächst einmal wichtig, die Lehren aus der Pandemie mit konkreten, längst überfälligen Maßnahmen zu ziehen. Hierzu zählt in erster Linie, eine zeitgemäßen Dateninfrastruktur zu schaffen, um all jene Daten zu erfassen, die für die Pandemiebekämpfung unerlässlich sind. Bis heute gibt es keine verlässlichen Zahlen über erfolgte Impfungen oder differenzierte Infektionscluster. Hier gibt es Verbesserungsbedarf. Ich denke da auch an die Empfehlungen unseres wissenschaftlichen Beirats der AOK Nordost für ein „Open-Data-Portal für Versorgungsdaten“.

In einem anderen Impulspapier hat unser Beirat die Bildung eines interdisziplinär besetzten zentralen Krisenstabs gefordert, der evidenzbasiert Entscheidungen trifft. Es ist erfreulich, dass die neue Bundesregierung einen solchen Krisenstab nunmehr einrichten wird, um die gesamtstaatliche Bekämpfung der Corona-Pandemie besser zu koordinieren. Darüber hinaus müssen auch Wissenschaftler*innen sowie unabhängige Expert:innen-Gremien wie die Ständige Impfkommission (StIKO) oder der Deutsche Ethikrat in Bezug auf die von Ihnen behandelten Fragestellungen besseren Zugang zu nationalen Daten erhalten. Außerdem müssen Leistungserbringer bevorzugt mit schnellem Internetzugang versorgt und im Bereich der IT-Sicherheit unterstützt werden. Darüber hinaus ist eine zielgruppengerechte Kommunikationsstrategie zu entwickeln, weil die vermeintlich beste Gesundheitspolitik nicht trägt, wenn sie nicht von allen Bevölkerungsteilen verstanden wird.

Braucht es mehr Stellen für Fachleute in Bundesministerien, um die Umsetzung einer Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen operativ steuern zu können?

Grundsätzlich ja, wobei die einzelnen Häuser einen unterschiedlichen Bedarf haben. Allemal sollte das Bewusstsein verbreitet werden, dass sich die bedeutenden Herausforderungen der digitalen Transformation nicht so „nebenbei“ erfüllen lassen. Diese Investitionen in Personal lohnen sich, da entsprechende Mittel an anderer Stelle wiederum eingespart werden können. Man braucht hierfür allerdings auch die richtigen Leute, mehr Quereinsteiger mit praktischer Expertise aus Wissenschaft und Praxis, die man entsprechend inzentivieren muss. Gleichzeitig müssen auch Verwaltungsbeschäftigte in den Bereichen Projektmanagement und Digitalkompetenzen weiter gestärkt werden. Hierfür bedarf es einer digitalen Transformation in den Bundesministerien und der nachgeordneten Verwaltung. Durch eine stärker datenbasierte Arbeit in den Bundesministerien, wie dies durch die aktuell in Gründung befindlichen Datenlabore gefördert wird, wird auch das Bewusstsein für die Möglichkeiten und Chancen dieser Form der Zusammenarbeit in der Verwaltung gestärkt. Auf Grundlage hieraus gewonnener Erkenntnisse kann die digitale Transformation des Gesundheitssektors besser nachvollzogen und durch die Verwaltung unterstützt werden.

Zur elektronischen Patientenakte heißt es, die Einführung und die nutzenbringende Anwendung solle beschleunigt werden, ebenso die Anbindung der Leistungserbringer an die Telematikinfrastruktur. Zudem heißt es wörtlich – sie haben es schon erwähnt: Alle Versicherten bekommen DSGVO-konform eine ePA zur Verfügung gestellt; ihre Nutzung ist freiwillig (opt-out). Eine Opt-Out-Regelung bedeutet, dass jeder Versicherte eine ePA bekommen würde. Nur, wer sich dagegen entscheidet, bekommt keine. Wie sehr würde dieser Schritt das Thema vorantreiben?

Die elektronische Patientenakte (ePA) wird bereits in einer ersten Ausbaustufe von den Krankenkassen bereitgehalten. Allerdings nutzt in der Praxis nur ein Bruchteil der Versicherten diese Möglichkeit. Dabei bietet die ePA viele Vorteile: sei es der schnelle Zugriff auf mitunter lebensnotwendige Informationen, sei es die bessere Analyse digitaler Gesundheitsdaten zu Diagnose- und Therapiezwecken. Durch das Opt-Out-Verfahren ist davon auszugehen, dass es viele Patientinnen und Patienten gibt, die nicht aktiv der Digitalisierung ihrer Daten widersprechen und damit von den zuvor benannten Vorteilen profitieren können. Sinnvoll wäre ergänzend, dass in einer breit angelegten Kampagne aufgezeigt wird, wie die ePA funktioniert, wie sie Gesundheitsvorsorge, Diagnosen und Therapien verbessert und welche ganz konkreten Vorteile dies sowohl für die zu Behandelnden als auch für die Leistungserbringer bietet. Man muss den Menschen die Sorge vor dem Unbekannten nehmen, zumal digitale Anwendungen für Viele abstrakt und zuweilen unsicher erscheinen.

Versprochen wird weiterhin, dass die gematik zu einer digitalen Gesundheitsagentur ausgebaut werden soll. Das klingt nach mehr Geld und mehr Stellen für die gematik – ein überfälliger Schritt?

Die wechselvolle Geschichte der Gesellschaft für Telematik (gematik), die die Digitalisierung des Gesundheitswesens mit und ohne Einfluss des Bundesgesundheitsministeriums nicht mit der gewünschten Effizienz und Agilität vorangebracht hat, zeigt, wie schwierig solche Governance-Strukturen sind. Ob dies mit der geplanten Gesundheitsagentur besser wird, bleibt abzuwarten. Allemal fügt diese sich in die jüngsten Strukturreformen auf Agenturbasis ein, wie etwa die Agentur für Sprunginnovation oder die Agentur für Innovation in der Cybersicherheit. Agiles Verwalten, gerade im Bereich von Digitalprojekten, ist ein Gebot der Stunde.

Und was sind aus ihrer Sicht die wichtigsten Digitalisierungsthemen im Gesundheitswesen, die am besten gleich in den ersten 100 Tagen umgesetzt werden sollten?

In der aktuellen Krisensituation kann es nur ein Thema geben, dem alle Aufmerksamkeit gelten sollte: Wie kann man die Pandemie – auch vor dem Hintergrund immer neuer Mutationen des SARS-CoV-2-Virus – in einer Weise bekämpfen, durch die möglichst viele Menschenleben gerettet, das Gesundheitssystem vor dem Kollaps bewahrt und in der Folge wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Kollateralschäden vermieden werden? So forderte auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in ihrer 10. Ad-hoc-Stellungnahme zur Coronavirus-Pandemie vom 27.11.2021 klare, konsequente und vor allem sofortige Maßnahmen. Dies betrifft neben der Einführung einer Impfpflicht und rigorosen Kontaktbeschränkungen auch Maßnahmen des besseren Krisenmanagements, was letztlich nur auf einer besseren bundesweiten Datenbasis mit digitaler Erfassung und Auswertung aller relevanten Daten erfolgen kann. Auch der Wissenschaftliche Beirat für Digitale Transformation der AOK Nordost empfahl in seinem Positionspapier vom 28.6.2021 ein „planvolles, vorausschauendes und verhältnismäßiges Vorgehen mit einem hohen Grad an Innovationsoffenheit und Bereitschaft zu situationsgemäßen Anpassungen von Gesetzen, Prozessen und Methoden: agil, kreativ und den Umständen angemessen“.

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