„Die elektronische Patientenakte optimiert Abläufe und rettet Leben“

Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag darauf verständigt, dass bald alle Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA) bekommen sollen – es sei denn, er oder sie widerspricht. Diese „opt-out“-Regelung für die ePA muss möglichst rasch gesetzlich verankert werden, fordert der Wissenschaftliche Beirat für digitale Transformation der AOK Nordost.

Inga Bergen, Sprecherin des Wissenschaftlichen Beirats für digitale Transformation der AOK Nordost

Inga Bergen, sie sind die Sprecherin des Beirats. Es gibt verfassungsrechtliche Bedenken dagegen, dass jeder Versicherte, der keine ePA bekommen will, aktiv widersprechen muss. Warum greifen diese Bedenken aus Sicht der Expertinnen und Experten im Beirat zu kurz?

Sie greifen zu kurz, weil die Nutzung der elektronischen Patientenakte auch dann freiwillig bleibt, wenn jeder Versicherte automatisch eine ePA bekommt. Denn jeder, der die ePA nicht nutzen möchte, kann widersprechen. Wichtig ist dabei, dass im Gesetz verankert wird, dass die Versicherten eindeutig und leicht verständlich darüber informiert werden, dass sie eine elektronische Patientenakte erhalten. Und sie müssen auch darüber informiert werden, wie sie widersprechen können. Wenn dies passiert, ist die Opt-out-Regelung absolut verfassungsfest, denn sie trägt maßgeblich dazu bei, das Leben und die Gesundheit der Versicherten besser zu schützen.

Warum ist die elektronische Patientenakte aus Sicht des Beirats so zentral wichtig, um die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens voranzubringen?

Die elektronische Patientenakte modernisiert unsere Gesundheitsversorgung. Denn wenn sie flächendeckend eingeführt ist, muss niemand mehr Papierstapel mit zur Behandlung nehmen. Doppeluntersuchungen können vermieden werden, weil Ärztinnen und Ärzten alle Informationen zur Verfügung haben. Die ePA optimiert Abläufe, sie rettet Leben in Notsituationen, weil eben alle Informationen an einem Ort verfügbar sein können. Und sie ist ein Kernstück für die dringend benötigte Modernisierung unseres Gesundheitswesens, denn sie ist auch der Dreh- und Angelpunkt für viele Innovationen, die es ermöglichen, auch künftig gute, personalisierte Versorgung anzubieten.

Das Gesundheitsministerium hat bereits Beteiligte zum ePA-opt-out-Verfahren angehört, einen genauen Zeitplan für das Gesetzgebungsverfahren gibt es aber noch nicht. Was muss aus Sicht des Beirats bei dem geplanten Gesetz beachtet werden?

Nachdem eine Gesetzesänderung für eine Opt-out-ePA notwendig ist, empfiehlt der Beirat hier ebenfalls ganz klar die Ausgestaltung zu regeln, das heißt: auch die technisch-organisatorischen Möglichkeiten zur individuellen Nutzung der ePA. Es muss einfach sein, es muss verständlich sein, und auch der Zugang muss einfach geregelt sein, damit die Hürde nicht zu groß ist für die Bevölkerung, die ePA zu nutzen. Geklärt werden muss zudem, ob die ePA automatisch mit den Gesundheitsdaten befüllt wird oder, ob es dazu noch einer Freigabe im Einzelfall bedarf.

Deutschland gilt als ein Land, in dem vielen Menschen Datenschutz besonders wichtig ist. Warum sollte sich die Bundesregierung dennoch dabei beeilen, die „ePA für alle“ einzuführen?

Deutschland muss sich beeilen, die ePA-opt-out-Lösung flächendeckend umzusetzen, denn die Vorteile überwiegen glasklar. Im Jahr 2022 kann es nicht mehr sein, dass Patientinnen und Patienten mit Papierstapeln durch die Gegend laufen, doppelt untersucht werden und vielleicht Medikamente erhalten, die Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten haben könnten. All das könnte man mit einer funktionierenden ePA wirklich deutlich verbessern. Und im Jahr 2022 kann es auch eigentlich nicht mehr sein, dass medizinische Fachkräfte stundenlang am Telefon hängen müssen, um medizinische Informationen zusammenzusuchen. All das könnte eine ePA lösen. Und sie könnte wirklich die Arzneimittelversorgung deutlich optimieren. Die Vorteile liegen eindeutig auf der Hand. Deshalb muss der Gesetzgeber dringend tätig werden, wenn er das selbst gesteckte Ziel erreichen will, dass bis 2025 mindestens 80 Prozent der Deutschen eine ePA nutzen.

Digitalexpertinnen und -experten fordern: „ePA für alle“ jetzt gesetzlich verankern

Der Wissenschaftliche Beirat für digitale Transformation der AOK Nordost legt in seinem Impulspapier „opt-out für die ePA gesetzlich verankern!“ dar, warum die Bundesregierung Tempo machen müsse bei der im Koalitionsvertrag versprochenen Umstellung der ePA auf ein opt-out-Verfahren.

Neben einer optimierten medizinischen Versorgung kann aus Sicht des Beirats auch die medizinische Forschung durch den flächendeckenden Einsatz der ePA vorangebracht werden. So sollen ePA-Nutzende ab 2023 die Möglichkeit bekommen, ihre Daten zu spenden. Dies könne helfen, künftig schneller als bislang wirksame Behandlungen für neuartige Erkrankungen wie etwa Long Covid entwickeln zu können.

Ohne „ePA für alle“ scheint das Ziel der Bundesregierung unerreichbar

Um die Digitalisierung im Gesundheitswesen im Einvernehmen mit Ärzteverbänden, Krankenkassen und weiteren Beteiligten zu beschleunigen, hat das Bundesministerium für Gesundheit im September einen Strategieprozess gestartet. Im Rahmen dieses Prozesses soll auch ein Gesetz für die opt-out-Regelung der ePA erarbeitet werden. Die Digitalisierungsstrategie soll laut BMG im Frühjahr 2023 vorgestellt werden. Wenn es nach Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) geht, sollen im Jahr 2025 mindestens 80 Prozent der GKV-Versicherten über eine ePA verfügen. 

Ohne eine „ePA für alle“ durch die opt-out-Regelung scheint dieses ambitionierte Ziel unerreichbar zu sein. So haben sich rund zwei Jahre nach dem Start der ePA im Januar 2021 laut TI-Dashboard der gematik weniger als 1 Prozent der Versicherten selbst eine ePA ihrer Krankenkasse angelegt – meist in Form einer App, die kostenlos heruntergeladen werden kann.

Zugang zur ePA muss einfach und verständlich sein

Verfassungsrechtliche Bedenken von Datenschützern gegen eine opt-out-Regelung für die ePA können aus Sicht des Beirats entkräftet werden. Die ePA-Nutzung sei derzeit rein freiwillig und solle es auch bleiben. Dass die Versicherten, die keine ePA wollen, künftig aktiv werden müssen, ändere daran nichts. Dieses System könne nämlich so ausgestaltet werden, dass alle Versicherten eindeutig, unmissverständlich und leicht verständlich auf die Gesetzesänderung und die mit ihr verbundenen Rechtsfolgen hingewiesen würden, so der Beirat.

Die Expertinnen und Experten empfehlen, im geplanten Gesetz zur opt-out-Lösung die technisch-organisatorischen Möglichkeiten zur individuellen Nutzung der ePA zu regeln. Der Widerspruch gegen die ePA-Nutzung sollte per Post oder per E-Mail, jeweils mit Eingangsbestätigung, ermöglicht werden.

Dass die Versicherten sich durch eine opt-out-Regelung künftig aktiv mit der ePA auseinandersetzen müssen, ist für den Beirat nicht nur zumutbar, sondern diene auch dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Schließlich sei ein stärker digitalisiertes Gesundheitssystem unverzichtbar für den nachhaltigen Schutz von Leben und Gesundheit.

Der im November 2016 gegründete Wissenschaftliche Beirat für Digitale Transformation der AOK Nordost berät die Gesundheitskasse kritisch und unabhängig bei Fragen der digitalen Transformation im Gesundheitswesen. Mehrere Mitglieder des Beirats beraten in anderen Funktionen auch die Bundesregierung zu diesen Fragen.

Mitglieder des Beirats sind:
–  Prof. Dr. Dirk Heckmann (Geschäftsführer)
–  Dipl.-Pol. Inga Bergen (Sprecherin)

–  Prof. Dr. Wilfried Bernhardt
–  Prof. Dr. Dr. Walter Blocher
–  Prof. Dr. Stefan Heinemann
–  Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Jähnichen
–  Prof. Dr. Anne Paschke
–  Dipl.-Psych. Marina Weisband

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