Es ist Freitagnachmittag, der Kühlschrank ist leer und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mit drei erschöpften Kindern noch schnell einkaufen zu gehen. An den Regalreihen mit zuckrigen Backwaren und Süßigkeiten habe ich meine Kinder durch ein ausgeklügeltes und über Jahre perfektioniertes Wegesystem problemlos vorbeigelotst. Doch an der Kasse komme ich leider nicht vorbei. Und spätestens jetzt ist es soweit: Während ich noch dabei bin, die Waren auf dem Band zu stapeln, räumt Kind drei schon munter die Schokoriegel aus dem Regal, Kind eins legt einen völlig überdrehten Wutanfall auf das Supermarkt-Parkett, weil es heute kein Ü-Ei geben wird, während Kind zwei ebenfalls mit glänzenden Augen die bunten Verpackungen scannt und versucht unter Rosenkohl und Nudeln doch noch Kaubonbons auf dem Kassenband zu verstecken, als ich kurz nicht hinschaue. Die Süßigkeiten an der Kasse werden regelmäßig zu meinem Endgegner. Welches Elternteil kennt das nicht?
Umfrage: 74 Prozent gegen Süßigkeiten im Kassenbereich
Nicht ohne Grund werden die Süßwaren an der Kasse auch Quengelware genannt. „Die Kassenzone verführt gezielt zum Spontankauf. Die Platzierung der Süßwaren auf Augenhöhe der Kinder im Quengelbereich provoziert bewusst Familienstreit, um den Absatz von Süßwaren anzukurbeln“, erklärt Katrin Schaller, kommissarische Leiterin der Stabsstelle Krebsprävention am Deutschen Krebsforschungsinstituts (DKFZ). Eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Kantar im Auftrag des DKFZ und der Deutschen Allianz Nichtübertragbarer Krankheiten (DANK) hat nun ergeben, dass sich drei von vier Befragten gegen Süßigkeiten im Kassenbereich aussprechen: 74 Prozent der 1.009 telefonisch Befragten lehne diese ab. Gegen Alkohol sprachen sich sogar noch mehr Menschen aus (76 Prozent) und 61 Prozent würden Tabakwaren im Kassenbereich verbieten wollen. „Alkohol und Tabak an der Kasse machen es Menschen mit Suchterkrankungen schwer, abstinent zu bleiben. Der Gesetzgeber muss dieser Verkaufspraxis einen Riegel vorschieben“, so Katrin Schaller.
Dramatischer Trend: Immer mehr Kinder krankhaft übergewichtig
Rein ökonomische Gründe gehen zu Lasten der Gesundheit. Aus Sicht des Einzelhandels ein durchaus effektives Mittel: Laut Daten des Kölner EHI Retail Instituts liegt der Umsatzanteil der an der Kasse platzierten „Impulsware“ bei sechs bis sieben Prozent und das obwohl der Kassenbereich nur ein Prozent der Ladenfläche ausmacht.
Und auch ich ertappe mich immer wieder in der Falle. Da werfe ich dann doch mal schnell den Schokoriegel oder die natürlich perfekt an Kinderhände angepasste Portionstüte Gummibärchen mit auf das Band. Was schaden schon ein bisschen Süßigkeiten?
Man sagt, die Menge macht das Gift. Das Gleiche gilt auch für Süßigkeiten. Ab und an ein Stück Schokolade zu essen, wird keinem Kind schaden. Gehören Süßigkeiten allerdings zum Standardrepertoire auf dem Speiseplan, können ernsthafte gesundheitliche Probleme wie Übergewicht oder krankhaftes Übergewicht (Adipositas) die Folge sein. Eine Analyse von Versichertenzahlen der AOK Nordost hat ergeben, dass der Anteil der Kinder mit einem ärztlich diagnostizierten krankhaften Übergewicht in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen hat. 2018 waren in Berlin 17.300 Kinder adipös, 2021 waren es schon 20.600 Kinder. Als „fast schon dramatisch“ bezeichnet Andreas Bös, Ernährungsexperte bei der AOK Nordost, diesen Trend. Denn nicht nur in Berlin, sondern auch in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg hat die Zahl adipöser Kinder zugenommen – um insgesamt 7.000 Kinder stieg der Anteil im Zeitraum von 2018 bis 2021 im gesamten Nordosten. In Mecklenburg-Vorpommern sind mittlerweile 5,6 Prozent der Kinder übergewichtig. Mein Kollege Robin Avram hat sich gemeinsam mit Andreas Bös die Zahlen genauer angeschaut und über die schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen gesprochen.
Krankhaftes Übergewicht steigert das Diabetes-Risiko um 451,8 Prozent
Meist ist mit einem starken Übergewicht aber nicht Schluss. Das Risiko an einer sogenannten Volkskrankheit zu erkranken, steigt mit der Diagnose Adipositas signifikant an, wie die Daten des AOK Nordost Gesundheitsatlas zeigen: Das Risiko für Krebs steigt um 45,8 Prozent, für Hypertonie, also Bluthochdruck, um 619,2 Prozent und für Diabetes Typ 2 um 451,8 Prozent.
Nicht ohne Grund fordert Barbara Bitzer, Sprecherin der Deutschen Allianz Nichtübertragbarer Krankheiten und Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), dass endlich etwas passieren muss: „Eine gemeinsame Initiative des Bundesgesundheits- und Bundesernährungsministeriums ist überfällig. Andere Länder machen es längst vor“, sagt sie.
Dass es oft kein böser Wille ist, sondern Eltern es manchmal auch einfach nicht besser wissen, zeigt die AOK-Familienstudie 2022: Gut die Hälfte der Eltern von Kindern, die stark übergewichtig sind, besitzen nur eine unzureichende Ernährungskompetenz (53 Prozent). 85 Prozent der befragten Familien wünschen sich mehr Orientierung beim Einkaufen in Hinblick auf eine gesunde Ernährung. Daniela Teichert, Vorstandsvorsitzende der AOK Nordost, fordert deswegen eine bessere Unterstützung insbesondere bildungsferner Familien: „Gesunde Ernährung gehört verpflichtend in die Lehrpläne der Schulen – und zwar flächendeckend“, sagt sie.
Ein letztes Mal zurück zur Supermarktkasse: Das Wissen um diese Zahlen und Zusammenhänge wird mich sicherlich nicht vor dem nächsten epischen Wutausbruch meiner Kinder in Sachen Süßkram bewahren, aber es hilft mir standhaft zu bleiben. Und so kann ich letztlich dem Endgegner Quengelwaren zumindest mit mehr Gelassenheit gegenübertreten.