„Wir müssen weiter Flagge zeigen”

Das Symbol des Regenbogens findet sich momentan überall: auf Fahnen, T-Shirts, Taschen und angemalten Fingernägeln. Manuel Neuer hat bei der Fußball-Europameisterschaft eine Kapitänsbinde in Regenbogenfarben getragen. Und das Verbot der UEFA, die Münchener Arena bunt erstrahlen zu lassen, hat eine Welle der Entrüstung ausgelöst.  

Herr Schreiber, ist der Regenbogen damit jetzt als Zeichen für einen neuen Umgang mit Diversität in der Gesellschaft angekommen – oder nur ein Hype? 

Ich würde nicht von einem Hype sprechen. Natürlich ist der Regenbogen momentan besonders sichtbar aufgrund der Vorkommnisse im Zusammenhang mit der Fußball-Europameisterschaft. Aber auch schon in den vergangenen Jahren haben wir besonders in Berlin an den Senats- und Bezirksverwaltungen und auch an vielen Unternehmensstandorten die Regenbogenflagge gesehen. Ich glaube auch, dass der Großteil der Gesellschaft mit diesem Symbol etwas anfangen kann. Aber ein richtiges Umdenken hat noch nicht stattgefunden. So sehe ich es als Interessensvertreter natürlich kritisch, wenn plötzlich ein Politiker wie Markus Söder, der sich in der Vergangenheit nicht besonders profiliert hat, in vorderster Front die Regenbogenflagge hisst. Bayern ist immerhin das einzige Bundesland, das bisher keinen LGBT-Aktionsplan hat.  

Zur Person

Christopher Schreiber (24) hat Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und an der Sciences Po Paris studiert und ist seit Januar 2021 einer der beiden Geschäftsführer des Lesben- und Schwulenverbandes Berlin-Brandenburg e.V. (LSVD). Als Interessenvertreter der queeren Community setzt er sich in Politik und Gesellschaft dafür ein, dass LGBT+ frei und sicher in Berlin leben können. Zuvor koordinierte Christopher Schreiber beim LSVD Berlin-Brandenburg das „Bündnis gegen Homophobie“, in dem die AOK Nordost seit 2011 Mitglied ist.

Heute haben Sie die Regenbogenfahne bei der AOK Nordost in Berlin-Kreuzberg hochgezogen. Wie wichtig ist es, das Symbol Regenbogenflagge auch an ganz bestimmten Standorten zu setzen? 

Damit verändert man nicht die Situation, wie sie ist. Aber diejenigen die die Regenbogenflagge hissen, beispielsweise Regierungsvertreter*innen, große Unternehmen oder eben auch Krankenkassen, zeigen, dass sie Homophobie und Transphobie nicht hinnehmen. Das sind wichtige Organisationen unserer Gesellschaft und ist in der Außenwirkung ganz wichtig. Es gibt LGBT-Menschen eine Art von Sicherheit, wenn man sieht, das große Verbände oder Unternehmen dieses Symbol zeigen. Auf der anderen Seite ist es aber auch für die Mitarbeiter*innen ein wichtiges Zeichen, wenn sie sehen, dass die Haus- oder Unternehmensleitung hinter ihnen steht. Sie müssen sich nicht verstecken, sondern können stolz sein.  

Wie ist denn die Situation von Lesben, Schwulen, Trans- oder Inter-Menschen in der heutigen Gesellschaft? 

Das kann man ganz gut an der Flagge festmachen. Wir sind ja oft in den Pride Weeks unterwegs und tragen dann auch die Symbolik, also Regenbogen- und Transfahne. Da werden wir oft angepöbelt und beleidigt. Viele erfahren Gewalt, vor allem in den Großstädten. Das sehen wir auch an den Zahlen. Die Berliner Polizei ist ja eine der wenigen, die homophobe Gewalt erfasst. Es gibt auch mehrere Verbände und Projekte, wie L-SUPPORT oder MANEO, die Gewaltfälle in Berlin erfassen. Dort sehen wir, dass die Zahlen anhaltend hoch und sogar steigend sind. Gewalterfahrung ist ein großes Thema, was uns alle betrifft. Auch Gewalt im Internet und Mobbing darf man nicht unterschätzen. Der Verein „Liebe wen du willst“ unterstützt gerade jüngere Menschen, die im Internet Mobbing erfahren. Ein weiteres Thema ist die rechtliche Lage. Für Schwule und Lesben hat sich mit der Ehe für alle einiges verbessert. Aber gerade Trans-, Inter- und Nicht-binäre-Menschen, die nicht in das cisgeschlechtliche System hineinpassen, stehen immer noch vor sehr großen Hürden. Für Regenbogenfamilien gab es jetzt einen Durchbruch: Berlin fördert die Kinderwunschbehandlung von lesbischen Paaren. Das ist ein ganz wichtiger Schritt. Aber auch da gibt es noch ganz viel zu tun.  

Trans, inter, cis, nicht-binär – was die Begriffe bedeuten

Transgeschlechtliche Menschen identifizieren sich nicht mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Manche Menschen wollen oder können sich weder als Mann noch als Frau identifizieren, sie bezeichnen sich oft als nicht-binär. Intergeschlechtliche Menschen wurden bei der Geburt mit Geschlechtsmerkmalen geboren, die nicht eindeutig männlich oder weiblich sind. Von cisgeschlechtlich spricht man, wenn sich ein Mensch mit dem Geschlecht, das ihm oder ihr bei der Geburt zugewiesen wurde, identifiziert.

Das Gesundheitswesen in Deutschland ist zu großen Teilen immer noch auf cisgeschlechtliche heterosexuelle Menschen ausgerichtet. Welchen Problemen stehen Schwule, Lesben, Bisexuelle und Trans- und Inter-Menschen in der gesundheitlichen Versorgung gegenüber? 

Es liegen leider nur wenig Daten zur Gesundheitslage von queeren Personen vor, historisch gesehen ist die Beziehung von queeren Menschen zur Medizin natürlich schwierig. Das liegt einfach daran, dass lange Zeit das Bild queerer Menschen ein Bild kranker Menschen war, unsere Identitäten wurden konstant pathologisiert. Man hat ganz lange Zeit unsere Identitäten pathologisiert. 1990 wurde Homosexualität erstmals von der Weltgesundheitsorganisation aus der Liste der psychischen Krankheiten gestrichen. Aber Inter-, Trans- und Nicht-Binäre-Menschen tauchen nur bedingt in der Gesundheitsversorgung auf. Man spricht immer noch von einer ‚gestörten Geschlechtsentwicklung oder Geschlechtsidentität‘. Die Begutachtungsrichtlinien des Medizinischen Dienstes beispielsweise, in denen es ja auch um die Genehmigung von geschlechtsangleichenden Maßnahmen geht, wurde erst 2020 überarbeitet. Das war ein sehr langer Prozess, in den viele Trans-Spitzenverbände ganz große Hoffnungen gesetzt. Es gab in wenigen Punkten eine Erleichterung, in vielen Punkten ist die Lage aber einfach unverändert geblieben. Die neuen Richtlinien sind immer noch sehr binär-geschlechtlich ausgerichtet. Man geht immer davon aus, dass eine Trans-Person vollumfänglich in das andere Geschlecht transitioniert, obwohl es auch in der Trans-Community nicht-binäre Identitäten und auch ganz unterschiedliche Bedarfe und Bedürfnisse gibt. 

Was bedeutet das für die Betroffenen?  

Nicht jede Trans-Person möchte auch eine geschlechtsangleichende Operation durchführen lassen. Es gibt ganz unterschiedliche Lebensentwürfe. Diese finden sich nicht wieder, genauso wie nicht-binäre Menschen. Genauso wie Kinder und Jugendliche, die in der alten Richtlinie noch explizit genannt wurden. Das ist ein Rückschritt. Speziell intergeschlechtliche Menschen, die von Geburt an ein nicht eindeutiges männliches oder weibliches Geschlecht haben, mussten bis vor kurzem in ihrer Kindheit häufig sogenannte ‚geschlechtskorrigierende Maßnahmen‘ erleben, also irreversible Eingriffe in ihr biologisches Geschlecht, um sie einem Geschlecht zuzuordnen. Es gibt Studien, in denen 60 Prozent der intersexuellen Menschen von ganz schlimmen Erfahrungen im Gesundheitswesen berichten, weil Ärzte und Ärztinnen zum Teil überhaupt nicht für dieses Thema sensibilisiert waren. 

Müsste die Sensibilität im Umgang mit trans-, intergeschlechtlichen oder nicht-binären Menschen in der medizinischen Ausbildung eine größere Rolle spielen? 

Ein geschlechts- und diversitätsspezifisches Gesundheitssystem ist immer wichtig. In erster Linie natürlich für queere Menschen, aber eigentlich für alle Menschen. Ich sage immer, alle Menschen profitieren von dem Emanzipationskampf der queeren Community, weil er uns von Geschlechterstereotypen und von bestimmten traditionellen Mustern befreit. Auch heterosexuelle Menschen leben heutzutage in anderen Familienmodellen, die auch in der Pflege und in der Gesundheitsversorgung abgebildet werden müssen. Zu welchem Arzt ich gehe – ob Urologe oder Frauenarzt – ist noch stark binär geprägt.  

Wo können queere Menschen Hilfe finden? 

Es gibt mittlerweile sehr viele Beratungsstellen in Berlin. Hier gibt es zum Beispiel die Schwulenberatung, die im Bereich der psychischen Gesundheit sehr viel Unterstützung leisten können. Auch gibt es Lesbenberatung Berlin und den Verein TransInterQueer, die auf der psychosozialen Ebene Unterstützung leisten und gleichzeitig auch einen Safe Space bilden, also einen Raum, in dem Leute zusammenkommen, sich in Selbsthilfegruppen austauschen und sich gegenseitig stärken können. Sowas ist aber vor allem in Berlin möglich, wo wir in gewisser Weise eine privilegierte Situation haben, da die Institutionen meist für LGBT-Themen sensibilisiert sind. Das kann im ländlichen Raum ganz anders aussehen. Allein die Suche nach Therapeuten für transgeschlechtliche Personen ist im ländlichen Raum super schwierig. Trotzdem müssen sie ja immer noch eine Psychotherapie machen und brauchen eine Diagnose, um Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen zu können. In Berlin hingegen gibt es viele Ärzte, die LGBT-freundlich sind. Es gibt HIV-Schwerpunktpraxen und endokrinologische Schwerpunktpraxen für Trans-Menschen. Wir als LSVD vermitteln LGBT-freundliche Ärzte und unterstützen Personen, die bei uns Hilfe suchen.  

Niemandem wird abgesprochen, sich als männlich oder weiblich identifizieren zu dürfen. Das steht gar nicht zur Debatte. Es ist aber auch wichtig, den Raum zu lassen für nicht-binäre Identitäten.

Christopher Schreiber, Geschäftsführer Lesben- und Schwulenverband Berlin Brandenburg e.V.

Manuel Neuers Kapitänsbinde hat das Thema Toleranz in die Mitte einer gesellschaftlichen Debatte gebracht. Wer ein solches Zeichen für Diversität setzt, dem oder der schlägt oft auch Homo- oder Transphobie entgegen. Wie schwer wird es aus Ihrer Sicht in den nächsten Jahren für eine Akzeptanz und Toleranz aller Geschlechter in der Gesellschaft zu erreichen? 

Man muss erst einmal wahrnehmen, dass es auch in der queeren Community ganz unterschiedliche Personen und Identitäten gibt, die auch verschiedene Erfahrungen machen. Trans-Personen machen unglaublich viele Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen, wenn sie von anderen nicht als das Geschlecht erkannt werden, das sie möchten. Jetzt gilt es, etwas gegen diese binär-geschlechtliche Vorstellung zu unternehmen. Niemandem wird abgesprochen, sich als männlich oder weiblich identifizieren zu dürfen. Das steht gar nicht zur Debatte. Es ist aber auch wichtig, den Raum zu lassen für nicht-binäre Identitäten. Angefangen bei dem Thema, wie Umkleideräume organisiert werden, über die Frage, wie frei ich mich in Einkaufszentren bewegen kann bis hin zur Frage, wie das Gesundheitswesen organisiert ist. Das ist noch ein ganz weiter Weg. Auch im Bereich der rechtlichen Anerkennung gibt es noch viele Hürden, so ist das aus den 80er Jahren stammende Transsexuellengesetz immer noch nicht durch ein modernes Selbstbestimmungsgesetz ersetzt worden. Ich nehme eine sehr starke Unterstützung durch die Politik und aus der Zivilgesellschaft wahr. Die wichtigen Köpfe in der Gesellschaft stehen hinter uns. Jetzt geht es darum, das zu verteidigen. Wir müssen weiterhin Flagge zeigen und klarmachen, dass Queerfeindlichkeit keinen Platz in der Gesellschaft hat.  

Leave a reply:

Your email address will not be published.