Die Corona-Pandemie hat wie ein Brennglas auf den Gesundheitssektor gewirkt und viele Baustellen, die schon vorher bestanden, verschärft. So fehlen Fachkräfte im Gesundheitswesen nicht erst seit März 2020. Bereits in den vergangenen Jahren hat sich abgezeichnet, dass das medizinische und pflegerische Personal oft nicht ausreicht. Doch durch Corona hat die Situation in der Pflege im vergangenen Jahr enorme Aufmerksamkeit bekommen und viele fordern mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen für Pflegepersonal.
Juliane Venohr, Sie sind Leiterin der Landesvertretung der AOK Nordost in Mecklenburg-Vorpommern. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Vergütung der Fachkräfte im Gesundheitswesen?
Das spielt für die Pflegekräfte und auch die anderen Beschäftigten im Gesundheitswesen natürlich eine große Rolle. Umso wichtiger ist die Tatsache, dass die Gehälter für das Pflegepersonal in Mecklenburg-Vorpommern in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen sind. Wichtig war dabei auch, dass endlich die Mindestlöhne in der Pflege deutschlandweit gleich hoch sind. Kürzlich wurde ein Gesetz im Bundestag verabschiedet, das für alle in der Pflege Beschäftigten die Bezahlung von Tariflöhnen oder Vergütungen in gleicher Höhe vorsieht. Das ist ein wichtiger Baustein, um die Attraktivität des Pflegeberufs deutlich zu heben.
Was muss darüber hinaus noch getan werden, um den Pflegeberuf attraktiver zu gestalten und damit auch mehr Fachkräfte zu gewinnen und zu halten?
Es gibt immer noch große Potentiale bei der Gewinnung und dem Halten von Fachkräften. Wichtige Themen sind beispielsweise die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Etablierung altersgerechter Arbeitsbedingungen und die Ausweitung der Stundenzahl von Teilzeitkräften. Weitere Reserven gibt es auch in der Weiterqualifizierung von Pflegehelfern zu Pflegefachkräften oder bei einem generell neuen Verständnis des Pflegeberufs und den damit verbundenen Karrierechancen. Auch ein gutes Betriebsklima bleibt eine entscheidende Stellschraube, um Mitarbeitende an die Gesundheitseinrichtungen zu binden und Nachwuchskräfte für den Gesundheitsberuf zu begeistern. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass auch die Gewinnung ausländischer Fachkräfte einen Teil des Bedarfs abdeckt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Kooperation des Gesundheitsministeriums von Mecklenburg-Vorpommern mit der Republik Vietnam seit 2017, um in Mecklenburg-Vorpommern Pflegefachleute auszubilden.
Die Schulgeldbefreiung gilt in MV bisher nur für Pflegeberufe. Gibt es auch in anderen Gesundheitsberufen Handlungsbedarf?
Tatsächlich wurde das Schulgeld bei der Bündelung der Ausbildung für Kinder-, Alten- und Krankenpflege bundesweit abgeschafft. Aber in anderen Gesundheitsberufen muss in vielen Ländern immer noch Schulgeld gezahlt werden. Das erschwert den Zugang zu vielen Berufen, in denen wir bereits jetzt einen erheblichen Fachkräftemangel haben. So beträgt das Schulgeld beispielsweise für die Ausbildung in der Logopädie in Mecklenburg-Vorpommern zwischen 250 Euro monatlich in Schwerin und 525 in Rostock – zuzüglich 880 Euro Prüfungsgebühren. Für die zweijährige Ausbildung in der Podologie müssen Auszubildende in unserem Bundesland insgesamt sogar 11.000 Euro an Schulgeld zahlen. Da müssen wir uns über rückläufige Ausbildungszahlen in Gesundheitsberufen nicht wundern.
Ein gutes Betriebsklima bleibt am Ende eine entscheidende Stellschraube, um Mitarbeitende an die Gesundheitseinrichtungen zu binden und Nachwuchskräfte für den Gesundheitsberuf zu begeistern.
Juliane Venohr, Leiterin der Landesdirektion der AOK Nordost in Mecklenburg-Vorpommern
Nicht nur Pflegepersonal fehlt an vielen Stellen. Auch in der ärztlichen Versorgung wird die Situation immer schwieriger, weil immer mehr Ärztinnen und Ärzte in der Fläche fehlen. Was kann einen Medizinstudierenden motivieren, in Mecklenburg-Vorpommern als Landarzt tätig zu werden?
In MV werden von den jährlich 400 Medizinstudienplätzen 32 für Studenten reserviert, die später befristet als Landarzt tätig sein wollen. Diese Studenten erhalten ab dem Physikum ein staatliches Stipendium bis zum Studienende. Ob diese Maßnahmen ausreichen, muss die Zukunft zeigen. Aber es ist auf jeden Fall ein guter erster Schritt, um die gut ausgebildeten Ärzte im Land zu halten. Aber immer mehr Ärztinnen und Ärzte schätzen die weichen, familienfreundlichen Rahmenbedingungen der Ärzteanstellung in stationären Einrichtungen, Niederlassungen und medizinischen Versorgungszentren. An diesen Rahmenbedingungen müssen alle Beteiligten vor Ort weiterarbeiten.
Wenn nicht genug Ärztinnen und Ärzte da sind, könnte doch anderes medizinisches oder pflegerisches Personal die Aufgaben übernehmen. Warum ist die Übertragung ärztlicher Aufgaben an andere Gesundheitsberufe ein so schweres Unterfangen?
Die Delegation von ärztlichen Aufgaben in andere Gesundheitsberufe gibt es in Mecklenburg-Vorpommern schon lange – etwa mit der Etablierung nichtärztlicher Praxisassistenten und der Qualifizierung zur Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis als VERAH. Hier gab es ebenso wie bei der Einführung der Videosprechstunde lange Zeit Vorbehalte in den Ärztevertretungen. Ein großer Schritt nach vorn war vor ein paar Jahren die Einführung des Berufes des Notfallsanitäters. Aber auch hier gibt es noch fehlende Rechtssicherheit in Einzelfragen wie bei der Durchführung invasiver Maßnahmen für den akuten medizinischen Ernstfall.
Mit der Änderung des Notfallgesetzes in diesem Jahr dürfen Notfallsanitäter zum Beispiel ohne ärztliche Anweisung Medikamente geben oder Patientinnen und Patienten intubieren – Opiate zur Schmerzbehandlung dürfen sie aber weiterhin nicht selbstständig geben. Dem Ärztemangel in der Chirurgie könnte durch sogenannte Physican Assistents begegnet werden. Hier fehlt leider ein bundeseinheitliches Curriculum, sodass die Qualifikation bisher nur in privaten Einrichtungen erfolgen kann. Diese Probleme muss die zukünftige Gesundheitspolitik dringend lösen. Dafür ist eine Berufsrechtsreform der nichtärztlichen Gesundheitsberufe erforderlich. Insgesamt wird Teamarbeit auch in den Gesundheitsberufen immer wichtiger.