Zwischen Hoffnung und Realität: Vernetzung muss die Zukunft der Versorgung sein

Eine vernetze Versorgung muss kommen – und zwar jetzt und nicht irgendwann. Darin waren sich die Teilnehmenden der Diskussionsrunde AOK-Forum live in Berlin am Dienstagabend alle einig. Unter dem Titel „Vernetzung als Grundlage für eine gute Gesundheitsversorgung“ boten sich sowohl hoffnungsvolle Blicke in die theoretische Ausgestaltung digitaler Prozesse als auch ernüchternde Eindrücke aus dem Praxisalltag.  

Wo funktioniert eine vernetzte Versorgung bereits und wo sind noch großen Hürden zu nehmen? Und letztendlich: Was bringt die Digitalisierung im Gesundheitswesen? Die Teilnehmenden der Diskussionsrunde stellten sich nicht weniger als den drängendsten Fragen, die das Gesundheitswesen aktuell beschäftigen. Doch durften die Gäste zunächst eine kleine Zeitreise unternehmen: „Wer von Ihnen nutzt zum Musikhören noch ausschließlich CDs?“, fragte Inga Bergen, Expertin für Digital Health und Sprecherin des Wissenschaftlichen Beirats der Digitalen Transformation, zu Beginn des Abends. CDs, Napster, der erste iPod bis hin zu Spotify – ein kurzer Abriss der Geschichte des Musikkonsums wird zum Beispiel dafür, was aktuell im Gesundheitswesen mit der Einführung der elektronischen Patientenakte passieren wird. Ein evolutionärer Schritt in Richtung Digitalisierung.   

Zwischen Hoffnung und Realität: die ePA im Versorgungsalltag 

Inga Bergen, Digital Heatlth-Expertin beim AOK-Forum live. Foto: Andre Piorek

Dass aktuell nur PDFs in der ePA hochgeladen werden können, darüber solle man nicht lästern, meinte Inga Bergen. Denn diese seien durch KI inzwischen sehr gut auswertbar. Sie sieht das Gesundheitswesen aktuell kurz vor einem „Spotify-Moment“. Wie herausfordernd diese PDFs jedoch im Versorgungsalltag sein können, das skizzierte Dr. Oliver Fasold, Facharzt für Neurologie am Neurozentrum tempelhof.berlin. Als Pionier der elektronischen Patientenakte hat er bereits um die 40 ePA-Patientinnen und -Patienten in seiner Praxis – im Verhältnis zu den 2500 bis 3000 Patientinnen und Patienten, die monatlich in der Praxis behandelt werden, jedoch nur ein „Tropfen auf dem heißen Stein“. Er gewährte den Zuhörerinnen und Zuhörern einen eher ernüchternden Einblick in die elektronische Patientenakte. Zehn Klicks seien notwendig, um eine einzige Datei in die elektronische Patientenakte hochzuladen, dazu benötigt er zwischen 35 und 47 Sekunden. Zeit, die sich in großen Praxen, beispielsweise bei Kinder- oder Hausärzten, mit bis zu 80 Patientinnen und Patienten am Tag auf über eine Stunde summerieren könne. Diese fehle im Praxisalltag häufig. „Digitale Prozesse müssen sich immer an den analogen messen lassen“, so Fasold. Ein Klick zum Ausdrucken sei da die deutlich zeitsparendere Variante.  

Theorie und Praxis im Gespräch: Moderator Matthias Gabriel, Daniela Teichert, Inga Bergen und Dr. Oliver Fasold (v.l.n.r.). Foto: Andre Piorek

Aus dieser Anwenderperspektive auf die Prozesse zu schauen und diese weiterzuentwickeln, das sei aus ihrer Sicht besonders wichtig, unterstrich auch Daniela Teichert, Vorstandsvorsitzende der AOK Nordost. „Wir müssen in die Praxis gehen und die Perspektive der Nutzer einnehmen“, sagte sie. In der Vergangenheit sei viel zerredet worden und das Vertrauen sei verloren gegangen. Ihre Hoffnung: Eine weit verbreitete Nutzung darf keine Ausnahme bleiben. Dafür sei es wichtig, den Nutzen der elektronischen Patientenakte klar herauszustellen. Die Digital-Gesetze seien ein Turbo, den es zu nutzen gilt. Die ePA bezeichnete Daniela Teichert als das „größte Nachhaltigkeitsprojekt, das aktuell angeschoben wird“. Effizienzsteigerung der Prozesse, unnötige Behandlungen vermeiden und gefährliche Medikationen erkennen – das Potenzial einer holistischen Versorgung sei enorm. Dass jetzt noch nicht alles reibungslos funktioniere, sei normal, betonte auch Inga Bergen auf die Nachfrage von Moderator Matthias Gabriel, ob die ePA nicht eigentlich falsch konzipiert sei. „Wir können nicht erwarten, dass es – schwuppdiwupps – einfach losgeht. Aber wir müssen jetzt nach vorne schauen und die Potenziale in den Blick nehmen und nicht darauf schauen, was alles nicht geht“, so Bergen.  

Ein Mann sitzt gemütlich in einem Sessel und hält ein Smartphone in der Hand.

Mit Opt-Out rein in die ePA, das scheint für Viele ein sinnvoller Weg zu sein. Fast zwei Drittel aller Befragten finden diesen Ansatz für die Einführung der elektronischen Patientenakte gut. Wem die Opt-Out-Lösung noch gefällt und wer etwas dagegen hat, das offenbart die aktuelle Civey-Befragung für die AOK.

„Die Krankenhausreform ist ein Muss“ 

Dass vieles nicht einfach so geht, zeigte sich auch im zweiten Teil des Abends, in dem über die stärkere Vernetzung von Strukturen im Gesundheitswesen debattiert wurde. Prof. Dr. Christian Karagiannidis, Mitglied der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin, machte deutlich, dass die großen Reformen im Gesundheitsbereich, die Krankenhausstrukturreform und die Reform des Rettungsdienstes, im ersten Quartal 2024 dringend auf den Weg gebracht werden müssen. „Die Krankenhausreform ist ein absolutes Muss, genauso wie die Notfallreform“, sagte er. In seiner Vision einer vernetzten Versorgung zeichnete er ein Bild sektorenübergreifender Strukturen, angefangen bei Universitäten über Krankenhäuser bis in die Hausarztpraxen. „Das ist der wesentliche Schlüssel, die Patientinnen und Patienten gut zu versorgen“, so Karagiannidis, der aus Köln nach Berlin zugeschaltet war.

Wie gut Berlin auf die notwendigen Reformen vorbereitet ist, debattierten Silke Gebel, Christian Zander, Tobias Schulze, Daniela Teichert (v.r.n.l) gemeinsam mit Prof. Dr. Christian Karagiannidis (Hintergrund). Foto: Andre Piorek

Grundlage ist ein gemeinsames bedarfsorientiertes Ziel 

Doch wie gut ist die Bundeshauptstadt Berlin auf die anstehenden Reformen vorbereitet? Silke Gebel, Vorsitzende des Ausschusses für Gesundheit und Pflege im Abgeordnetenhaus, plädierte dafür bei der Ausgestaltung der Krankenhausreform konstruktiv mitzuverhandeln: „Wir müssen dieses Thema in Verzahnung mit dem ambulanten Sektor und auch mit Brandenburg angehen.“ Christian Zander, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, bezeichnete es als „Desaster“, sollte die Krankenhausreform scheitern. „Ambulant-stationäre Zentren sind sinnvoll, diese könnten eine wichtige Lotsenfunktion übernehmen“, sagte Zander. Tobias Schulze, Sprecher für Gesundheit und Pflege der Fraktion die Linke, warnte jedoch: Eine Reform könne nur durchgesetzt werden, wenn den Patientinnen und Patienten eine Perspektive auf eine verlässliche Versorgung gegeben wird. „Wir müssen den Leuten sagen, wo sie hingehen können, wenn die Notaufnahme um die Ecke geschlossen wird“. 

„Wir müssen jetzt vorpreschen, denn wenn wir auf die Krankenhausreform warten, werden wir die ersten Effekte erst 2027 sehen“, betonte hingehen Prof. Dr. Christian Karagiannidis. Gerade im Nordosten gäbe es genug Regionen, die schwer zu versorgen seien. „Wir haben aktuell mit einer sektorenübergreifenden Versorgungsanalyse begonnen – das gab es bisher noch nie. Dies muss die Grundlage für den ganzen Prozess sein“, unterstrich letztlich noch einmal Daniela Teichert. Ein bedarfsorientiertes gemeinsames Zielbild sei essenziell. Sie warb für Verständnis, dass der Reformprozess viele Aushandlungsrunden brauche, machte jedoch eines ganz deutlich: „2027 ist viel zu spät!“ Die Veränderungen müssten jetzt kommen.  


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