Die Teillegalisierung von Cannabis hat Online-Portalen, die Privatrezepte für medizinisches Cannabis vermitteln, einen Boom beschert. Doch unter welchen Voraussetzungen übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Behandlungskosten? Das erläutert Apothekerin Dr. Friederike Schwegler im Interview.
Frau Schwegler, seit dem 1.April ist Cannabis teillegalisiert worden. Ist es nun einfacher, von den Krankenkassen eine Kostenübernahme für medizinisches Cannabis zu erhalten?
Nein. Die rechtlichen Voraussetzungen für die Kostenübernahme von cannabishaltigen Produkten sind im Rahmen der Teillegalisierung nicht geändert worden. Weiterhin gilt, dass nur eine Gruppe von Patientinnen und Patienten Cannabis genehmigungsfrei auf Kassenkosten erhält: schwerstkranke Menschen, die sich in der letzten Phase ihres Lebens in einer spezialisierten ambulanten Palliativversorgung befinden.
Für diese Menschen können cannabishaltige Produkte wie Tropfen in der Endphase des Lebens eine sinnvolle Ergänzung sein, um Schmerzen zu lindern. Ärztinnen und Ärzte, die in Hospizen arbeiten, verschreiben diese Produkte beispielsweise bei Patientinnen und Patienten mit Schluckschwierigkeiten. In allen anderen Fällen muss weiterhin vor Behandlungsbeginn ein Antrag auf Kostenübernahme bei der Krankenkasse des Versicherten gestellt werden.
Wer ist eigentlich… Dr. Friederike Schwegler?
Dr. Friederike Schwegler ist approbierte Apothekerin und seit 2008 bei der AOK Nordost tätig. Sie begleitet das Thema Cannabis seit 2017.
Mehrere Telemedizin-Plattformen vermitteln medizinisches Cannabis auf Rezept. Laut Medienberichten verzeichnen sie seit der Teillegalisierung einen Boom. Die Nutzer dieser Seiten können gegen eine Gebühr Video-Sprechstunden bei Privatärzten buchen. Diese Ärztinnen und Ärzte würden laut den Portalen auch bei Migräne, Einschlafstörungen oder ADHS Medizinalcannabis verschreiben. Sind dies Diagnosen, bei denen eine Kostenübernahme durch eine Krankenkasse möglich ist?
In der Regel nicht. In der medizinischen Leitlinie zur Behandlung von ADHS steht beispielsweise glasklar: Es soll kein Medizinalcannabis für die Therapie eingesetzt werden. Den Nutzerinnen und Nutzern dieser Plattformen muss klar sein, dass die Rezepte, die sie erhalten, von Privatärztinnen und Ärzten ausgestellt werden. Diese haben keinen Vertrag mit den gesetzlichen Krankenkassen und können deshalb auch keine Rezepte ausstellen, die von Krankenkassen erstattet werden. Mit anderen Worten: Die Plattformen vermitteln Privatrezepte, die entsprechend auch privat bezahlt werden müssen
Was für Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit die Solidargemeinschaft der Versicherten die Kosten für eine Cannabis-Behandlung trägt?
Der Patient oder die Patientin muss aufgrund einer schwerwiegenden Erkrankung in seiner Lebensqualität dauerhaft und nachhaltig beeinträchtigt sein. Die Standardtherapie für diese Erkrankung muss nicht mehr ausreichend wirksam sein, oder der Patient oder die Patientin hat sie nicht vertragen. Und: Es muss eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Verbesserung des Krankheitsverlaufs oder der Symptome bestehen.
Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, muss ein behandelnder Arzt oder die behandelnde Ärztin mit Kassenzulassung vor Therapiebeginn bei der Krankenkasse einen Antrag auf Kostenübernahme stellen. In diesem Antrag muss der Behandlungsverlauf ausführlich geschildert werden. Diese Anträge prüfen wir dann im Einzelfall. Häufig wird auch der Medizinische Dienst beauftragt, den Leistungsanspruch zu begutachten.
Wir prüfen hier sehr genau, weil es sich bei Medizinalcannabis um ungeprüfte Therapien handelt, die kein Zulassungsverfahren durchlaufen haben. Die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit ist daher nicht belegt. Um die Behandlungsqualität unserer Versicherten zu gewährleisten, bewerten wir daher genau ob die gesetzlichen Ansprüche vorliegen. Durch Rückmeldungen unserer Versicherten wissen wir, dass eine Therapie mit cannabishaltigen Produkten auch unerwünschte Nebenwirkungen haben kann.
So war es beispielsweise im Fall einer älteren Dame, die zuerst ganz erleichtert war, dass ihr Antrag genehmigt wurde, weil sie ihre vorherigen Schmerzmittel nicht gut vertragen hatte. Zwei Wochen später rief sie an und erzählte, dass sie die cannabishaltigen Produkte wieder abgesetzt habe. Sie habe in ihrem Wohnzimmer Leute gesehen, die gar nicht da waren – also Halluzinationen gehabt. Das war ihr gar nicht geheuer. Des Weiteren müssen auch die Beitragsgelder unserer Versicherten wirtschaftlich und verantwortungsbewusst eingesetzt werden. Daher ist eine Einzelfallprüfung jedes Antrages unabdingbar
Was für Unterschiede gibt es zwischen getrockneten Cannabisblüten und cannabishaltigen Tropfen oder Kapseln?
Da gibt es große Unterschiede. Der zentrale Unterschied ist, dass Extrakte und das cannabishaltige Mittel Dronabinol meist als Tropfen verfügbar sind und daher in standardisierter Qualität vorliegen. Blüten hingegen sind Vielstoffgemische, welche nicht standardisiert vorliegen. Das eben erwähnte Dronabinol gibt es seit 30 Jahren, die entsprechenden Produkte in Form von Extrakten oder Kapseln sind in Apotheken gut bekannt. Ein großer Vorteil dieses Produkts ist, dass es dadurch sehr gut dosiert werden kann. Bei den Cannabisblüten gibt es hingegen eine Tendenz zur Höherdosierung. Eine Steuerung der Therapie ist auch schwieriger, da die Wirkung unmittelbar einsetzt. Um beispielsweise Schmerzen effektiv zu lindern, wollen wir aber keinen steilen Anstieg, sondern ein Plateau der Wirkung.
Auch hinsichtlich der Kosten gibt es große Unterschiede: Dronabinol verursacht pro Jahr Behandlungskosten von 2.000 bis 3.000 Euro, bei Blüten können die jährlichen Kosten bei 12.000 bis 15.000 Euro liegen. In der Regel gibt es keine medizinische Begründung für Cannabisblüten, denn schließlich ist auch der behandelnde Arzt angehalten, bei mehreren zur Verfügung stehenden Therapien die wirtschaftlichere auszuwählen.
Wie viele Anträge auf Kostenübernahme für eine Behandlung mit cannabishaltigen Produkten sind bei der AOK Nordost im vergangenen Jahr eingegangen – und wie viele davon wurden genehmigt?
Insgesamt sind von März 2023 bis März 2024 rund 650 Anträge bei der AOK Nordost eingegangen. Davon entfielen auf Berlin 262, auf Brandenburg 265 und auf Mecklenburg-Vorpommern 125 Anträge. Rund Zwei-Drittel der Anträge wurden genehmigt, die restlichen Anträge wurden abgelehnt, weil die Prüfung ergab, dass kein Leistungsanspruch besteht
Gibt es seit der Teillegalisierung einen Anstieg der Anträge?
Bisher sehen wir keinen Anstieg der Anträge. Die Ärztinnen und Ärzte mit Kassenzulassung, die cannabishaltige Produkte verordnen, wissen über die unveränderte Rechtslage für die Kostenübernahme von cannabishaltigen Produkten also offenbar gut Bescheid.