„Durch Medikationsfehler sterben mehr Menschen als im Straßenverkehr“

Rund 250.000 Menschen werden in Deutschland jedes Jahr ins Krankenhaus aufgenommen, weil sie unpassende Medikamente eingenommen haben. Das passiert besonders häufig bei chronisch kranken Menschen, die bei mehreren Ärzten in Behandlung sind. Wenn die Medikamente, die die verschiedenen Ärztinnen verordnen, nicht gut aufeinander abgestimmt sind, kann es zu gefährlichen Wechselwirkungen bis hin zum Tod kommen.

Frau Dolfen, um solche Medikationsfehler zu vermeiden, stellt die AOK Nordost vielen Ärzten seit 2019 den softwarebasierten „eletronic Life Safer“ (eLiSa) zur Verfügung. Wie kann eLiSa Ärztinnen beim Medikationsmanagement unterstützen?

Mit eLiSa kann der Arzt einen Gesamtüberblick über die Gesundheitshistorie seiner Patienten erhalten. Voraussetzung ist natürlich, dass der Patient vorher zustimmt. Die Software prüft die Gesamtmedikation zudem auf Wechselwirkungen, Unverträglichkeiten und inadäquate Dosierungen. Zudem unterstützt eLiSa den Arzt auch mit Managementhinweisen, so dass der Versicherte stets die für ihn passende Medikation erhält.

Susanne Dolfen ist Bereichsleiterin für ambulante Versorgung bei der AOK Nordost

Wie sind die bisherigen Erfahrungen der AOK Nordost mit eLiSa: Hilft die Software zuverlässig, Wechselwirkungen zu vermeiden? Gibt es aus Ihrer Sicht auch ökonomische Effekte?

Mit eLiSa sind wir als AOK Nordost den ersten Schritt zur Verbesserung der Arzneimittel-Therapiesicherheit (AMTS) unserer Versicherten gegangen. Die Akzeptanz in der Ärzteschaft und bei unseren Versicherten spiegelt uns wider, dass ein softwarebasiertes Medikationsmanagement der richtige Weg ist, um die Sicherheit der Medikation zu steigern. Um noch mehr Versicherte zu erreichen, haben wir uns nun zusammen mit der BARMER auf den Weg gemacht, die AMTS auch im Krankenhaus zu steigern. Perspektivisch wollen wir gemeinsam mit der BARMER zudem erproben, das Thema AMTS auch ins E-Rezept zu integrieren.

Herr Prof. Dr. Grandt, sie sind Chefarzt einer Klinik für Innere Medizin. Wenn chronisch kranke Patienten ins Krankenhaus aufgenommen werden, brauchen die dort arbeitenden Ärztinnen einen vollständigen Überblick über die Medikation ihrer Patientinnen. Wie verschaffen sich die Ärzt:innen derzeit einen Überblick – und wie sehr können Software-Lösungen wie eLiSa helfen, die Patientensicherheit im Krankenhaus zu verbessern?

Bei vier von fünf Notfallpatienten und bei jedem zweiten regulär eingewiesenen Patienten fehlen uns wichtige Informationen. Diese können nur mit viel Aufwand und meist nicht vollständig besorgt werden. Insbesondere ältere Patienten, die zahlreiche Arzneimittel einnehmen, können keine präzisen Angaben zu ihrer Therapie machen. Medikationspläne fehlen häufig oder sind unvollständig. Richtig genutzte Krankenkassendaten zur Information behandelnder Ärzte lösen dieses Problem und sparen dem Krankenhaus erheblich viel Zeit. Zeit, die Ärzte für die Behandlung ihrer Patienten einsetzen können, statt Befunden hinterher zu telefonieren. Nicht zu unterschätzen sind zudem die Bedeutung elektronischer Hinweise auf riskante Verordnungen. Diese werden bei Krankenhausaufnahme nicht selten übersehen und gefährden Patienten dann auch im Krankenhaus.

Prof. Dr. Daniel Grandt ist Chefarzt für Innere Medizin am Klinikum Saarbrücken und Vorsitzender der Kommission Arzneimitteltherapie-Management (AMTM) & Arzneimittel­therapie­sicherheit (AMTS) der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin.

Frau Dolfen, die AOK Nordost will den elektronischen Medikationscheck gemeinsam mit der BARMER nun auch in bundesweit 14 Krankenhäusern erproben. Das Innovationsfondsprojekt trägt den Namen TOP. Was ist das Ziel dieses Projekts?

Das Projekt TOP zielt auf die Transsektorale Optimierung der Patientensicherheit im Rahmen der stationären und ambulanten Arzneimitteltherapie ab. Mit TOP wollen wir dazu beitragen, die von Herrn Prof. Grandt geschilderten Probleme häufig unvollständiger Informationen über die Medikation von Krankenhaus-Patienten zu beheben. Das erhöht die Sicherheit für die Patienten und verbessert die Behandlungsqualität. Konkret erhalten die behandelnden Ärzte, die einen Patienten aufnehmen, einen Gesamtüberblick über die Behandlungs- und Arzneimitteldaten des Patienten. Spätestens bei der Entlassung führen sie zudem, begleitet durch die Krankenhausapotheker, das softwarebasierte Medikationsmanagement durch.

Herr Prof Dr. Grandt, wie viele Todesfälle und unnötige Krankenhauseinweisungen könnten in Deutschland denn pro Jahr verhindert werden, wenn Ärztinnen und Ärzte flächendeckend einen elektronischen Überblick über die Medikation ihrer Patienten hätten?

Nur wenn der Arzt alle verordneten Arzneimittel kennt, kann er prüfen, ob seine Verordnung dazu passt. Zwei bis vier von 100 Krankenhausaufnahmen gehen auf Medikationsfehler zurück.  Durch Medikationsfehler sterben mehr Menschen als im Straßenverkehr. Elektronische Unterstützung kann den Überblick über die Therapie vermitteln und auch Hinweise auf problematische Arzneimittelkombinationen geben. Bei 1.860 ambulant verordneten Wirkstoffen in mehr als 454.000 verschiedenen Zweierkombinationen kann kein Arzt dies aus ohne Hilfsmittel beurteilen.

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