„Gesundheitsversorgung muss regional gestaltet werden“

Der Ampel-Koalitionsvertrag avisiert unter anderem die Entwicklung einer sektorenübergreifenden Versorgungsplanung, die Förderung der Ambulantisierung vermeidbarer Krankenhausbehandlungen sowie den Ausbau integrierter Gesundheits- und Notfallzentren. Aus Sicht der AOK Nordost sind das drängende Themen, die die Gesundheitskasse bereits 2017 in dem Innovationsfondsprojekt „Strukturmigration im Mittelbereich Templin – StimMT“ in Angriff genommen hat. Wie die AOK Nordost den Ampel-Koalitionsvortrag auch vor dem Hintergrund der Erkenntnisse aus StimMT bewertet, darüber sprechen wir mit der AOK-Nordost-Vorständin Daniela Teichert.

Frau Teichert, die AOK Nordost hat gemeinsam mit Partnern das Innovationsfondsprojekt „Strukturmigration im Mittelbereich Templin“ umgesetzt. Jetzt liegt die Evaluation des Projektes vor. Welche Erkenntnisse ziehen Sie daraus?

Die Ergebnisse aus dem Evaluationsbericht zeigen klar und deutlich: Wir haben mit StimMT den richtigen Weg eingeschlagen. Auch wenn der an der ein oder anderen Stelle noch ziemlich holprig ist. So zeigt der Bericht, dass die Zahl der Krankenhausfälle nachweislich zurückgegangen ist, und zwar um 14,4 Prozent. Zum Vergleich: Bei der Kontrollgruppe lag der Rückgang bei 7,2 Prozent. Das ist gerade einmal die Hälfte. Das heißt, wir haben mit den in StimMT umgesetzten Maßnahmen eines der Hauptziele einer guten integrierten Versorgung erreicht.

Das da wäre?

Die Vermeidung unnötiger Krankenhausaufenthalte. Nachweislich konnten wir in Templin seit 2018 abnehmende Krankenhausfallzahlen verzeichnen. Diese Entwicklung hielt bis zum Projektende im Dezember 2020 kontinuierlich an. Weniger Krankenhausaufenthalte bedeuten weniger Strapazen und eine höhere Lebensqualität für die Patienten. Sie bedeuten weniger Belastung für die angespannte Personalsituation in Krankenhäusern. Und letztlich zählen die stationären Behandlungen nach wie vor zu den kostenintensivsten. StimMT ist für uns der Beweis: Stationäre Behandlungen ließen sich in vielen Fällen vermeiden, wenn die ambulanten Strukturen vor Ort entsprechend gut aufgestellt und unter den Beteiligten gut abgestimmt sind.

Wie kann das gelingen?

Durch Strukturmigration. Nur damit können wir in Zukunft auch in infrastrukturell schwachen Regionen eine gute wohnortnahe und gleichzeitig wirtschaftliche Versorgung aufrechterhalten. In Templin haben wir mit der Umwandlung eines Landkrankenhauses in ein Ambulant-Stationäres-Zentrum und mit dem Aufbau eines sektorenübergreifenden Koordinierungs- und Beratungszentrums eine solche Strukturmigration vollzogen. Wir haben nicht einfach nur kooperative Strukturen geschaffen, sondern Versorgungsstrukturen miteinander verschmolzen. So etwas hat es bisher in Deutschland nicht gegeben.  

Daniela Teichert, Vorstandsvorsitzende der AOK-Nordost

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Das liegt vor allem an der aktuellen Gesetzeslage, an den bundesweiten zentralen Vorgaben. Die machen eine solche Strukturmigration abseits von Innovationsfondsprojekten in der Praxis kaum möglich. Das wird spätestens jetzt nach dem Ende des Innovationsfondsprojektes offensichtlich, wo wir die in StimMT umgesetzten Maßnahmen über die Projektlaufzeit hinaus sichern wollen. Insbesondere bei infrastrukturellen Veränderungen sind wir aufgrund der beschränkenden Regelungen des SGB V schnell an Grenzen gestoßen.

Wo hat es gehakt?

Für die Etablierung eines Ambulant-Stationären-Zentrums gibt es noch keine entsprechenden Voraussetzungen für die Trägerschaft. Auch kann unter den aktuellen gesetzlichen Rahmenbedingungen Versorgung nicht sektorenübergreifend geplant werden. Genau das müsste aber möglich sein. Und es fehlt an einer gültigen Rechts- und Finanzierungsgrundlage, zum Beispiel für die Etablierung einer sogenannten Decision-Unit, wo Patienten bis zu 24 Stunden medizinisch überwacht und begleitet werden können, ohne dafür stationär aufgenommen werden zu müssen. Mit der Decision-Unit als Teil des Ambulant-Stationären-Zentrums konnten wir in StimMT erfolgreich viele unnötige Krankenhausbehandlungen vermeiden.

Welche gesetzlichen Änderungen braucht es hier Ihrer Meinung nach?

Im neuen Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung finden sich schon gute Ansätze. Besonders begrüßen wir, dass dort die Entwicklung einer sektorenübergreifenden Versorgungsplanung, die Förderung der Ambulantisierung vermeidbarer Krankenhausbehandlungen sowie der Ausbau integrierter Gesundheits- und Notfallzentren avisiert werden. Allerdings wird es jetzt auch darauf ankommen, wie das konkret umgesetzt wird. Hier bringen wir uns gerne in die Debatte ein. Wir haben dazu zehn Vorschläge für eine Gesundheitsversorgung der Zukunft in einem Papier der AOK Nordost zusammengefasst.   

Welche Vorschläge wären das zum Beispiel?

Gesundheitsversorgung sollte vor allem regional aufgestellt werden. Das haben unsere Erfahrungen gezeigt. Die Finanzierung muss direkt an die Erfordernisse vor Ort angepasst werden können. Statt sektoraler Budgets brauchen wir eine morbiditäts- und demografiebezogene regionale Ausgabensteuerung. Und könnte man hier nicht die vorhandenen Kompetenzen vor Ort nutzen und regional abgegrenzte „Freihandelszonen“ schaffen? Unter anderem mit entsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten der rechtlichen Rahmenbedingungen und einer stärker auf das Ergebnis der Versorgung ausgerichteten Honorierung? Fest steht jedenfalls: Wir brauchen viel mehr dezentrale und weniger zentrale Regelungen. Was die sektorenübergreifende Versorgungsplanung, die Ambulantisierung und die integrierten Gesundheits- und Notfallzentren betrifft: Hier steckt der Teufel im Detail.  

Wie meinen Sie das?

Zum Beispiel können wir bei der sektorenübergreifenden Versorgungsplanung nicht nur in den Kategorien ambulant und stationär denken. Das wäre viel zu kurz gesprungen. Vielmehr muss eine ganzheitliche Vernetzung aller Bereiche stattfinden: ambulante und stationäre Versorgung, Pflege, Prävention, aber auch Palliativversorgung und kommunale Angebote der Gesundheitsförderung. Zudem benötigen wir ein transparentes, einheitliches Set von Daten, die aus allen Versorgungsbereichen zusammengeführt werden. Nur damit können wir Versorgung so managen, dass sie qualitativ hochwertig und gleichzeitig ökonomisch sinnvoll funktioniert. Und so sehr wir den Vorstoß der Ampel-Koalition beim Thema Ambulantisierung begrüßen: Die im Koalitionsvertrag vorgeschlagenen Hybrid-DRGs sehen wir kritisch.

Warum?

Es steht außer Frage, dass wir dringend andere Ansätze für gemischte Finanzierungslösungen benötigen, wenn die sektorübergreifende Versorgung gelingen soll. Darum begrüßen wir es, dass die Ampel sich auch diesem Thema widmet. Der Ansatz der Hybrid-DRGs wurde in der Vergangenheit bereits getestet und wies einige Schwachstellen auf. So machte die Techniker Krankenkasse in Thüringen 2017 die Erfahrung, dass damit der Fallzahlenrückgang im stationären Bereich leider trotzdem hinter den Erwartungen zurückblieb.  

Was ist mit den integrierten Gesundheits- und Notfallzentren?

Da müssen wir erst einmal definieren, was deren genaue Funktion sein soll. Und welche Kriterien sie erfüllen müssen. Zum Beispiel müssen aus unserer Sicht diese integrierten Zentren Bestandteil von Ambulant-Stationären-Zentren oder Krankenhäusern sein und keine eigenständigen Versorgungseinrichtungen. Sonst haben wir nur wieder doppelte Strukturen. Und bei ihrem Aufbau müssen länderspezifische Besonderheiten in die Gestaltung einfließen können.

Um noch einmal die Brücke zum Anfang zu schlagen: Was geschieht jetzt mit den Erkenntnissen aus StimMT?

Wir haben vor rund zwei Jahren das Projekt „Gesundheitsversorgung 2030 – Strukturmigration“ ins Leben gerufen. In dem Projekt beschäftigen sich Expertinnen und Experten der AOK Nordost aus unterschiedlichen Fachrichtungen mit der Umsetzung der Strukturmigration in einzelnen Regionen. Dabei fließen die Erfahrungen aus StimMT ein. Aus diesem Projekt heraus hat die AOK Nordost zehn Punkte für eine Gesundheitsversorgung der Zukunft vorgeschlagen. 

Zehn Vorschläge für eine Gesundheitsversorgung der Zukunft klingen gut. Aber was wollen Sie damit konkret machen?

Damit soll ein Angebot an alle Partner gemacht werden, gemeinsam konkrete Projekte für die Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung in den Regionen aufzusetzen. Denn auch als große regionale Krankenkasse können wir solche Veränderungen nicht alleine stemmen. Wie ich an anderer Stelle schon einmal gesagt habe: Dafür braucht es eine Allianz der Willigen. Hier müssen mit Unterstützung durch die Politik alle Verantwortlichen vor Ort – inklusive der Krankenkassen – an einem gemeinsamen Strang ziehen. Es gibt Regionen, in denen die Landesregierungen durchaus die Notwendigkeit für spezifische regionale Lösungen erkannt haben. In Mecklenburg-Vorpommern etwa gibt es die Enquete-Kommission zur „Zukunft der medizinischen Versorgung“. Und in Brandenburg haben wir die Modellregion Gesundheit Lausitz. Dort befinden wir uns auch schon in Gesprächen mit Partnern.

Literaturempfehlung

Ist eine nachhaltige Regelversorgung auf regionaler Ebene ein Widerspruch in sich? Wenn ja, wie lässt sich dieser Widerspruch dann auflösen? Daniela Teichert beantwortet diese Fragen aus der Sicht einer großen regionalen Versorgerkasse in ihrem Beitrag „Gesundheit ist ein lokales Produkt: mehr Regionalität wagen!“ für den Herausgeberband „Zukunft Gesundheit“. Dieses Werk bündelt die aktuelle Diskussion rund um die Perspektiven der Gesundheitsversorgung und lässt neben Daniela Teichert viele weitere namhafte Expertinnen und Experten zu Wort kommen. Das Buch kann hier direkt beim Verlag bestellt werden.

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