Spurensuche nach dem Behandlungsfehler

Foto: Wesley Tingey (CC0 @unsplash)

Die im Bauch vergessene Schere wäre so ein Klassiker und relativ leicht als Ursache von Schmerzen nach einer Operation zu identifizieren. Oder es wurde eine Seite verwechselt und nicht das linke, sondern das rechte Knie behandelt. Solche Fälle sind eindeutig und dürften theoretisch nicht vorkommen. Aber so eindeutig sind die wenigsten Fälle. Betroffenen Patientinnen und Patienten steht als Versicherten der AOK Nordost bei der Vermutung eines Behandlungsfehlers ein schlagkräftiges Team im Behandlungsfehler-Management zur Seite.

Jeder dritte Fall ein Treffer

Die insgesamt acht Mitarbeitenden prüfen Jahr für Jahr mehrere hundert Fälle, wobei jeder dritte mit einem Gutachten offiziell als Behandlungsfehler bestätigt wird. Diese beachtliche Quote wird vor allem durch eine gezielte Analyse aller Leistungsdaten erreicht, die potenziell häufiger zu einem Behandlungsfehler führen können. „Wir gucken uns wirklich im Detail an, welche Leistungen jemand bekommen hat und ob daraus Rückschlüsse auf einen Behandlungsfehler gezogen werden können“, berichtet die Teamleiterin Annett Morawitz.

Frau im Rollstuhl mit Kind auf dem Schoß

„Wenn wir Lunte riechen, dann steigen meine Mitarbeitenden ganz tief ein und nehmen Kontakt zu den Versicherten auf. Denen berichten wir dann unseren Verdacht und fragen nach, ob wir das mal gemeinsam angehen wollen“, so Annett Morawitz weiter. Bei der Recherche kann sich auch herausstellen, dass eine medizinische Behandlung trotz auffälliger Daten gut verlaufen ist und keine Beschwerden bestehen. Doch bei jedem dritten Verdacht werden die Expertinnen und Experten fündig. „Manche Versicherte haben dann buchstäblich einen Aha-Effekt und sind ebenfalls interessiert daran, ihren Fall näher zu untersuchen.“

Viele Behandlungsfehler bei Geburtshilfe und Chirurgie

Darüber hinaus fällt Versicherten selbst auf, dass nach einer Behandlung etwas nicht stimmt. Deren Anwalt oder Anwältin meldet sich dann beim Behandlungsfehler-Management „und dann geht die Maschine los,“ sagt Annett Morawitz. Außerdem erhält ihr Team Hinweise aus den Fachabteilungen der AOK Nordost, vor allem aus dem Krankenhaus- und dem Pflegebereich. Dort sind dann in der Regel Daten oder Rechnungen aufgelaufen, die auf einen Behandlungsfehler schließen lassen, wobei erfahrungsgemäß die meisten Behandlungsfehler in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe sowie in der Chirurgie auftreten. Trotzdem gibt es immer noch eine große Grauzone an Behandlungsfehlern, die unentdeckt bleiben.

Nicht nur suchen, auch beraten

Wenn Patientinnen und Patienten bei sich einen Behandlungsfehler vermuten, dann können sie sich als Versicherte der AOK Nordost direkt oder über eine Anwaltskanzlei an das Behandlungsfehler-Management wenden. Alternativ kann auch die Schlichtungsstelle für Arzthaftungsfragen oder die Unabhängige Patientenberatung in Anspruch genommen werden.

Das Team von Annett Morawitz berät die Versicherten professionell, besorgt sämtliche Unterlagen über die Behandlung und legt diese dem Medizinischen Dienst vor, der dann in der Regel ein Gutachten erstellen lässt. „Dann haben Betroffene letztlich Klarheit darüber, ob es sich tatsächlich um einen Behandlungsfehler handelt. Wobei nicht jedes Problem nach einer Behandlung gleich ein Fehler ist, der zu Schadensersatz führt,“ schiebt Annett Morawitz hinterher. „Manche Behandlungen bergen einfach auch ein höheres Risiko. So kann es passieren, dass eine Operation nicht gut ausgeht, weil beispielsweise die Organe ungünstig liegen. Daran hat ja niemand wirklich Schuld. Schließlich lässt sich leider nicht alles vermeiden. Sowas nennt sich in der Fachsprache ein schicksalhaftes Ereignis.“

Aufwändige Ermittlungen für ein Gutachten

Foto: Sear Greyson (CC0 @unsplash)

Im Durchschnitt dauert es um die drei Monate, bis dem Team ein Gutachten mit dem Ergebnis vorliegt. „Das muss dann aber noch gar nicht das Endergebnis sein. Manchmal sind weitere Gutachten nötig, um einen Fall wasserdicht zu machen – oder nach vielen Jahren doch noch platzen zu lassen“, sagt Annett Morawitz. „Das sind sehr aufwändige Ermittlungen, weil meine Kolleginnen und Kollegen die Behandlungsunterlagen von allen betroffenen Stellen wie Klinik, Praxis, Reha oder Physiotherapie einsammeln müssen. Das wird dann wie ein großes Puzzle zusammengesetzt und geht zuletzt in die Begutachtung.“  

Das Gutachten händigt der Medizinische Dienst letztlich dem oder der Versicherten aus. Wenn darin ein Behandlungsfehler bestätigt worden ist, muss sich der oder die Versicherte selbständig mit einem Anwalt oder einer Anwältin zivilrechtlich um Schadensersatz bemühen.

Das Behandlungsfehler-Management wiederum versucht, die Kosten einer fehlerhaften Behandlung, die letztlich durch die Beiträge aller Versicherten bezahlt worden sind, zurückzuholen. Allein im Jahr 2021 beliefen sich die Regressforderungen für die Kranken- und Pflegeversicherung zusammen auf rund 4,5 Millionen Euro. „Wir haben komplizierte Fälle, die bis zu 20 Jahre laufen, wenn sich da noch Gerichtsverfahren anschließen. Das ist keine Seltenheit. Zum Beispiel Geburtsschadensfälle“, so Annett Morawitz weiter. „Wenn ein Baby bei der Geburt geschädigt wird und überlebt, dann läuft sowas in der Regel nicht ohne Gerichtverfahren und Urteil ab, bis die Haftpflichtversicherung des Schädigers letztlich einknicken und zahlen muss.“

Mindestmengen für mehr Routine

Die Regelung über Mindestmengen soll dazu führen, dass schwierige Operationen und Behandlungen nur in Kliniken durchgeführt werden, die ein Mindestmaß an Erfahrung haben. Wenn ein Sprichwort diesen Ansatz gut zusammenfasst, dann „Übung macht den Meister“. Je mehr schwierige Operationen und Behandlungen ein Krankenhaus bei planbaren medizinischen Eingriffen nachweisen kann, desto besser. So kann ein Krankenhaus, in dem alle zwei Wochen ein extrem junges Frühchen auf die Welt gebracht wird, schlicht mehr Routine vorweisen als eine Klinik, in der entsprechende Frühgeburten nur alle zwei Monate vorkommen.

Mit jedem Eingriff steigt die Erfahrung des medizinischen Personals einer Klinik. So berichtet Sabine Leitner, die Patientenvertreterin im Gemeinsamen Bundesausschuss: „Frühgeborene zu betreuen ist ein Teamgeschehen. Es liegt nicht nur an der Kompetenz des ärztlichen Teams, dass das Kind entgegennimmt, sondern es ist von Anfang an ein Team von Pflegerinnen dabei. Das Kind muss verlegt werden in einen Inkubator und darin mit den lebenserhaltenden Maßnahmen verbunden werden. Damit die Pfleger:innen Komplikationen rechtzeitig erkennen und adäquat handeln können, müssen sie geübt sein. (…) Wenn die Fallzahl zu gering ist, dann kann es sein, dass in manchen Schichten die eine oder andere Pflegekraft so ein Extremfrühchen noch gar nicht gepflegt hat. Dann könnten Fehler passieren, die bei Pfleger:innen, die diese Kinder häufiger behandeln, natürlich nicht vorkommen. Und das kann bei diesen besonders zerbrechlichen Kindern fatale Folgen haben“.

Der Gemeinsame Bundesausschuss zu Mindestmengen

 

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