Häusliche Pflege auf verschiedene Schultern verteilen

Wenn pflegende Angehörige Hilfe brauchen oder selbst erkranken, ist es gut, wenn sie sich auf ein bereits bestehendes Hilfs- und Pflegenetzwerk verlassen können. Birgit Burmeister, Teamleiterin der Pflegeberatung bei der AOK Nordost erläutert, wie so ein Netzwerk aussehen kann, warum man sich schon frühzeitig selbst eines aufbauen sollte und wie pflegende Angehörige Unterstützung bekommen können. Ziel sei es, die Pflege auf verschiedene Schultern zu verteilen und damit zur Entlastung jedes Einzelnen beizutragen. Denn auch bei einem Pflegenotstand in Deutschland könne man schon mit kleinen Maßnahmen die Last verteilen.

Birgit Burmeister, Teamleiterin der Pflegeberatung bei der AOK Nordost

Angehörige sind der größte Pflegedienst Deutschlands, heißt es. Doch was ist, wenn die Ehefrau, der Sohn oder ein anderer nahestehender pflegender Mensch selbst erkrankt?

Im Idealfall ist Mann oder Frau auf diese Situation vorbereitet. Denn wenn sich ein Angehöriger oder eine Angehörige allein um die Pflege kümmert, ist es besonders problematisch. Leichter wird es, wenn schon ein Pflegedienst und möglicherweise andere Angehörige oder Ehrenamtliche in die Pflege eingebunden sind. Wenn es jedoch so ist, dass die Ehefrau ihren demenzkranken Ehemann pflegt und plötzlich selbst nicht mehr kann, dann ist guter Rat teuer. Wir erleben diese Situation leider häufiger in den Pflegestützpunkten. Es gilt dann, schnellstmöglich Hilfe zu organisieren. Die Pflegeberater und Pflegeberaterinnen stehen dabei gerne unterstützend zur Seite.

Welche Möglichkeiten der Entlastung gibt es für pflegende Angehörige?  Was können Familienmitglieder vorsorglich tun, damit im Ernstfall schnelle Hilfe da ist?

Schnelle Hilfe ist leider nicht immer möglich. Aus der Perspektive der Pflegeberatung wünschen wir uns, dass Familien das Thema Pflege schon rechtzeitig im Vorfeld besprechen. Ab einem gewissen Alter oder nach der Diagnose bestimmter Erkrankungen steigt das Risiko, pflegebedürftig zu werden. Und dann ist es hilfreich, in einer ruhigen Minute beispielsweise zu fragen: „Mama, was wünschst du dir, wenn du mal nicht mehr so kannst?“ Und ebenso zu schauen: Was kann und will ich als Angehörige oder Angehöriger leisten, mit dem Bewusstsein, dass Pflege im Durchschnitt acht bis zehn Jahre dauert. Und hier sprechen wir noch nicht über Familien mit pflegebedürftigen Kindern. Im Idealfall beginnt man rechtzeitig, sich ein mögliches Hilfsnetzwerk aufzubauen. Ziel ist es, die pflegerische Versorgung so zu organisieren, dass man selbst nicht in eine Überlastungssituation kommt und für den Ernstfall vorgesorgt hat.

Wie kann denn so ein Netzwerk aussehen?

Zunächst kann man schauen, wer in der Familie welche Tätigkeiten übernehmen kann und für welche Aufgaben man beispielsweise einen Pflegedienst einbinden möchte. Für manche Pflegebedürftige ist zusätzlich auch die Tagespflege eine gute Möglichkeit der Versorgung für andere die stundenweise Betreuung zu Hause. Die Tagespflege ist bis zu fünf Tage in der Woche nutzbar. Es sind aber gar nicht immer die großen Dinge. Man kann zum Beispiel auch einen Mobilitätshilfedienst einbinden oder um ehrenamtliche Unterstützung bitten. So haben wir einmal einem betagten Pärchen einen Ehrenamtlichen vermittelt, der mit dem dementen Mann nachmittags für ein paar Stunden „Mensch ärgere dich nicht“ gespielt hat. In dieser Zeit konnte die Ehefrau einfach mal durchschnaufen, spazieren gehen oder auch einmal zum Friseur.

Welche Rolle spielt das Thema Entlastung in der Pflegeberatung?

Das Thema Entlastung ist ein essentieller Bestandteil der Pflegeberatung. Es geht immer um beide – die Person, die Pflege braucht und diejenige, die pflegt. Ziel ist es, die Pflege auf mehrere Schultern zu verteilen und damit zur Entlastung der Einzelnen beizutragen. Auch wenn wir einen Pflegenotstand haben, kann man mit kleineren Maßnahmen die Last verteilen. So kann der Entlastungsbetrag für anerkannte alltagsunterstützende Hilfe von monatlich 125 Euro zusätzlich zum Pflegegeld für niedrigschwellige Hilfe im Haushalt eingesetzt werden und bringt, einmal organisiert, regelmäßig wiederkehrende Hilfe und Entlastung. Aber die Angebote unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland. Auch dazu beraten wir. Weitere Tipps erhält man über die Angebote der AOK-Pflegeakademie, wie zum Beispiel die PfiFf-Pflegekurse oder die PfiFf-Pflegefilme.

Welche Möglichkeit haben pflegende Angehörige, die akut selbst erkranken und nicht pflegen können?

Hier kommen wir wieder auf das hoffentlich vorhandene Netzwerk zurück und das Wissen über mögliche Hilfs- und Unterstützungsangebote. Die erste Frage ist, wer kann aus der Familie oder aus dem Freundeskreis unterstützen? Darüber hinaus bietet sich die Nutzung der Kurzzeit- oder Verhinderungspflege an. Auch hier helfen die Mitarbeitenden der Pflegestützpunkte, eine gesicherte Versorgung auf den Weg zu bringen. Wenn jemand weiß, dass ein Krankenhausaufenthalt bevorsteht, schauen wir gemeinsam, mit welchen Maßnahmen die Versorgung der pflegebedürftigen Person in dieser Zeit sichergestellt werden kann.

Und wenn jemand eine längere Auszeit braucht?

Dafür gibt es die Möglichkeit einer stationären Reha für pflegende Angehörige. Der pflegende Angehörige macht etwas für seine körperliche Gesundheit und sein seelisches Wohlbefinden. Die pflegebedürftige Person wird vor Ort in einer Kurzzeitpflege versorgt.  Was viele Menschen nicht wissen: Es gibt auch immer mehr Möglichkeiten, gemeinsam mit der pflegebedürftigen Person zu verreisen. Dazu berät zum Beispiel der Verein Reisemaulwurf e.V..

Warum ist es so wichtig, dass auch pflegende Angehörige ganz bewusst eine Auszeit nehmen?

Rund ein Viertel der Pflegehaushalte fühlt sich durch die Pflege zeitlich und psychisch sehr stark belastet, das ergab eine Befragung für den Pflege-Report der AOK. Für die meisten Menschen ist es ja eine Herzensangelegenheit, zu helfen, zu unterstützen, zu pflegen. Wichtig dabei ist, auch auf mich selbst zu achten, wenn ich Menschen im Alltag unterstützen möchte, die mir wichtig sind. Das eine geht nicht ohne das andere. Kümmere ich mich nicht um mich selbst, geht das auf meine Gesundheit. Im Extremfall kann es sogar zu psychischer oder körperlicher Gewalt in der Pflege kommen.

Ein Großteil der pflegenden Angehörigen steht noch im Berufsleben. Welche Rolle spielt das für die Arbeitgeber?

Wir bekommen im Rahmen der Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Pflege oft Anfragen von Arbeitgebern. Sie sorgen sich zum einen um die Gesundheit ihrer Beschäftigten und wollen zugleich auch langen Ausfallzeiten vorbeugen. Wir beraten hier häufiger Frauenvertreterinnen oder Personalabteilungen, wie sie zum Beispiel Veranstaltungen für Beschäftigte zum Thema Pflege organisieren und sie auch über Entlastungsmöglichkeiten informieren können.

Welche Möglichkeiten der beruflichen Auszeit können Angestellte nutzen?

Am einfachsten organisieren lässt sich eine „Kurzzeitige Arbeitsverhinderung“. Mit ihr können Beschäftigte bei einer akut aufgetretenen Pflegesituation in der Familie kurzzeitig bis zu zehn Arbeitstage freinehmen. In dieser Zeit kann dann beispielsweise eine bedarfsgerechte Pflege organisiert werden. Dieses Angebot wird besonders häufig in Anspruch genommen. Wenn Angehörige einen pflegebedürftigen Menschen über einen längeren Zeitraum zuhause pflegen oder betreuen möchten, so kann in diesem Fall eine bis zu sechsmonatige Pflegezeit genommen werden. Außerdem kann die Arbeitszeit je nach persönlicher finanzieller Situation über einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren reduziert werden.

Gibt es auch Menschen, die Sie mit den Angeboten schwerer erreichen?

Schwer zu erreichen sind die sogenannten „Young-Carers“. Das sind zigtausende Kinder und Jugendliche, die in Pflege und Unterstützung von Familienmitgliedern eingebunden sind. Diese verantwortungsvolle Aufgabe beeinflusst direkt ihren künftigen Lebensweg. Die Kinder und Jugendlichen verlieren in der Schule den Anschluss, weil sie beispielsweise nachts ein paar Mal aufstehen und einem Familienmitglied helfen mussten und deshalb im Unterricht völlig übermüdet sind. Ihnen fehlt schlicht die Zeit für Hobbys oder Aktivitäten mit Freunden und sie können ihr Leben in der Jugend oft nicht unbeschwert genießen.  

Wo bekommen diese jungen Menschen Hilfe?

In solchen Fällen ermutigen wir zum Beispiel die Eltern darauf zu achten, wie stark ihr Kind in die pflegerische Versorgung eingebunden ist. Hat es genügend Zeit zum Lernen, sich mit Freunden zu treffen und vor allem, wie geht es ihm damit? Diese Kinder und Jugendlichen haben oft ein hohes Verantwortungsbewusstsein und wollen ihren Familienangehörigen helfen. Wir unterstützen Eltern dabei, Sorge zu tragen, damit es nicht zur Überlastung dieser jungen Menschen kommt. Bundesweite Initiativen wie Pausentaste bieten eine digitale Beratung an und können den Kindern und Jugendlichen auf Augenhöhe helfen. In Berlin gibt es darüber hinaus zwei Anlaufstellen: „Echt unersetzlich“ und das Projekt „Windschatten“.

Informationen zu den Pflegestützpunkten in
Berlin
Brandenburg
Mecklenburg-Vorpommern

Speziell ausgebildete Pflegeberaterinnen und Pflegeberater sind in vielen Strukturen des Gesundheitswesens zu finden, zum Beispiel in den Pflegekassen und den Pflegestützpunkten. Für den Erhalt und die Stärkung dieses wichtigen Lotsensystems plädiert Hans-Joachim Fritzen, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Nordost, im Interview „Gut beraten durch den Pflege-Dschungel kommen“.

In Berlin pflegen Frauen rund dreimal häufiger als Männer ihre Angehörigen. Das hat eine aktuelle Datenanalyse der AOK Nordost ergeben. Pflegeberater Frank Schaberg erklärt die Gründe für diesen Gender Care Gap im Interview „Männer delegieren Pflegeaufgaben lieber“.

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