Die Herausforderungen der Gesundheitsbranche im Nordosten

Auf der Nationalen Branchenkonferenz Gesundheitswirtschaft am 30. und 31. Mai in Rostock geht es um Trends und Herausforderungen der Gesundheitsbranche. Juliane Venohr, Leiterin der Landesdirektion der AOK Nordost in Mecklenburg-Vorpommern, spricht darüber, welche Themen dabei die größte Krankenkasse im Land beschäftigen und warum Fortschritt nur durch Teamwork gelingen kann. 

Frau Venohr, vor welchen aktuellen Herausforderungen steht die Gesundheitswirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern angesichts der demografischen Veränderungen und des Fachkräftemangels?

Juliane Venohr, Leiterin der Landesdirektion der AOK Nordost in Mecklenburg-Vorpommern

Die sind  ziemlich gewaltig. Um das Ausmaß zu verstehen, muss man wissen, dass die Gesundheitswirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern seit mehr als 30 Jahren entwickelt und gefördert wird. Sie ist neben dem Tourismus eines der wirtschaftlich wichtigsten Standbeine. Mehr als 160.000 Beschäftigte arbeiten in MV in gesundheitsnahen Berufen. Rund 1.000 davon übrigens bei der AOK Nordost. 

Zu den Punkten aus der Frage: Unsere Bevölkerung zählt mit einem Durchschnittsalter von 47 Jahren zu den ältesten in Deutschland. Daher steigt der Bedarf an Gesundheitsdienstleistungen. Gleichzeitig schrumpft die Zahl der Bevölkerung. Eine Berechnung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung zeigt, dass beispielsweise im Landkreis Mecklenburgischen Seenplatte im Jahr 2040 bis zu 17 Prozent weniger Menschen leben werden. Und das ist heute schon eine der am dünnsten besiedelten Regionen im Land. Dies stellt die Gesundheitswirtschaft vor die Herausforderung, qualifizierte Fachkräfte für die Versorgung älterer oder kranker Menschen zu gewinnen und zu halten.  

Was braucht es dafür?

Um dem entgegenzuwirken, ist es wichtig, den Gesundheitssektor als Arbeitsbereich attraktiver zu machen. Also durch verbesserte Arbeitsbedingungen, Weiterbildungsmöglichkeiten und natürlich eine angemessene Vergütung. Aber auch das Thema Digitalisierung ist elementar, damit Arbeitsprozesse verschlankt und Spezialisten entlastet werden. Nur mit technischen Lösungen können wir den genannten Herausforderungen dauerhaft begegnen. Wir brauchen daher auch die Infrastruktur, um digitale Anwendungen wie Telemedizin oder elektronische Patientenakten flächendeckend einzuführen und zu nutzen.  

Welche Chancen ergeben sich daraus?

Neue Technologien, telemedizinische Ansätze und digitale Gesundheitsanwendungen können dazu beitragen, die Versorgung zu verbessern und Engpässe bei Fachkräften zu überbrücken. Aber es geht ja nicht nur um innovative oder technologische Lösungen. Der Handlungsdruck im Gesundheitswesen ist enorm. Das betrifft sowohl die Finanzierung als auch Versorgungsformen. Nehmen wir nur die Pflege. Wir als AOK Nordost versichern die meisten Pflegebedürftigen in MV. Die Eigenanteile in stationären Pflegeeinrichtungen sind in den vergangenen zwei Jahren um ein Viertel gestiegen. So müssen Pflegebedürftige in MV durchschnittlich 2.200 Euro pro Monat aus der eigenen Tasche für ihren Pflegeheimplatz zahlen. Wie viele Menschen beziehen überhaupt eine solch hohe Rente? Hinzu kommt im pflegerischen und im ärztlichen Bereich der zunehmende Fachkräftemangel. Daher müssen wir auch weiter an systemischen Lösungen arbeiten. Die demographischen Veränderungen und der Fachkräftemangel erfordern intensivere Zusammenarbeit und Vernetzung der verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen. Darin liegt eine große Chance. 

Wie kann das gelingen? 

Das kann nur vor Ort etabliert werden. Und das ist unsere Stärke als AOK Nordost. So haben wir zu Gesundheitsregionen einen konkreten Vorschlag unterbreitet. Darin präsentieren wir dezentrale, flexible Lösungsansätze für sektorenunabhängige gesundheitliche Versorgungsstrukturen vor Ort. Wir zeigen Wege, die Versorgungssicherheit insbesondere in strukturarmen Regionen gewährleisten, Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung überwinden und die verfügbaren Ressourcen zielgenauer einsetzen. 

Inwiefern hat die COVID-19-Pandemie die Gesundheitsinfrastruktur und die Wirtschaft im Gesundheitssektor in Mecklenburg-Vorpommern beeinflusst, und welche langfristigen Auswirkungen sind zu erwarten?

Ich greife einen positiven Aspekt auf: Die Pandemie war ein Booster für Digitalisierungsprozesse im Gesundheitswesen in Mecklenburg-Vorpommern. Telemedizinische Anwendungen wurden verstärkt genutzt, um Patienten auch aus der Ferne zu versorgen. Die positiven Effekte waren plötzlich erlebbar und verändern auch weiterhin die Art und Weise, wie Gesundheitsdienstleistungen erbracht werden.  

Was unternimmt die AOK Nordost, um die Digitalisierung im Gesundheitswesen in Mecklenburg-Vorpommern voranzutreiben?

Wir sind die größte Einzelkasse in Mecklenburg-Vorpommern und damit einer der wichtigsten Akteure, wenn es darum geht, den Zugang zu Gesundheitsleistungen zu sichern. Seit vielen Jahren unterstützen wir die Einführung und Nutzung digitaler Gesundheitsanwendungen wie Telemedizin, elektronische Patientenakten und Gesundheits-Apps. Wir fördern Projekte zur digitalen Gesundheitsversorgung und stellen unseren Versicherten entsprechende Informationen und Angebote zur Verfügung. Darüber hinaus bieten wir Schulungen und Fortbildungen für Versicherte und Leistungserbringer an, um sie im Umgang mit digitalen Gesundheitsanwendungen zu unterstützen und so die Akzeptanz und Nutzung digitaler Lösungen im Gesundheitswesen zu erhöhen. 

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren im Gesundheitswesen in Mecklenburg-Vorpommern, einschließlich Krankenhäusern, niedergelassenen Ärzten, Pflegeeinrichtungen und Krankenkassen?

In erster Linie sind wir Vertragspartner und erfüllen verschiedene Rollen, entweder als Kostenträger oder Leistungserbringer oder auch als ordnungspolitische Aufsicht. In den bilateralen Beziehungen haben wir unsere Routinen und arbeiten mit Blick auf die Versorgungssicherheit für unsere Versicherten gut mit den Leistungserbringern zusammen. Wenn wir aber über strukturelle Veränderungen sprechen, dann können wir das nur gemeinsam vereinbaren und umsetzen. Aufgrund der Vielzahl der Akteure und leider auch wegen der Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung sind wir hier eher langsam unterwegs, obwohl wir uns durchweg mehr Tempo wünschen.  

Wir sind  Mitglied in der Kommission zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung in MV. Dafür hat die Gesundheitsministerin Stefanie Drese alle wichtigen Akteure an einen Tisch geholt und wir bearbeiten nach und nach selbst gestellte Arbeitsaufträge, zum Beispiel zur Pädiatrie oder Prävention. In den ersten Runden zeigte sich, dass wir jederzeit gesprächs- und lösungsbereit bleiben müssen. Es geht darum, nicht nur über den Tellerrand zu schauen, sondern manchmal auch, die eigene Position zu hinterfragen und Kompromisse einzugehen. Das fällt uns allen nicht immer leicht. Wenn wir aber unsere Ziele im Auge behalten – also verbesserte Strukturen, sichere Versorgungsformen und das Patientenwohl – dann finden wir auch einen Weg.  

Welche innovativen Ansätze und Projekte werden in Mecklenburg-Vorpommern erprobt, um die Gesundheitsversorgung zu verbessern? 

Als AOK in MV entwickeln wir seit mehr als 30 Jahren innovative Lösungen und erproben neue Versorgungsformen. Aktuell sind wir sehr erfolgreich mit digitalen Angeboten, so etwa zur Medikamentensicherheit oder zu arztentlastenden Projekten. Unser Projekt eLisa werden wir auch auf der Branchenkonferenz vorstellen. Kurz gesagt geht es dabei darum, mit technischer Unterstützung ein verbessertes Medikamentenmanagement zu ermöglichen. Durch einen schnellen Zugriff auf die relevanten Patientendaten und einen integrierten Medikationscheck wird die Anamnese erleichtert und unerwünschte Nebenwirkungen werden reduziert. Alle wichtigen Informationen zu Arzneimitteln und Gesundheitsdaten werden digital gebündelt. Der jeweilige Hausarzt erhält durch eLiSa einen Gesamtüberblick über verordnete Medikamente und kann diese bei Bedarf entsprechend anpassen. Patienten bekommen einen umfassenden Medikationsplan und zusätzliche Einnahmehinweise. Das evidenzbasierte Programm wurde zudem mit den ersten Plätzen beim Deutschen Patientensicherheitspreis 2023 sowie dem MSD Gesundheitspreis ausgezeichnet.  

Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht die Prävention von Krankheiten und die Förderung der Gesundheit ihrer Versicherten in Mecklenburg-Vorpommern, und welche Maßnahmen ergreift die AOK Nordost, um das Bewusstsein für gesunde Verhaltensweisen zu fördern?

Prävention ist für uns gesetzlicher Auftrag und gleichzeitig ein Herzensthema. Für unsere Versicherten bieten wir beispielsweise Gesundheitskurse zu Ernährung, Bewegung und mentaler Gesundheit an. Damit erreichen wir viele Leute, die sich gesundheitsbewusst verhalten möchten. Sehr wichtig ist aber auch das jeweilige Umfeld, in dem wir uns alle jeweils bewegen. Das kann die KiTa oder Schule sein, das kann der Arbeitsplatz sein, aber auch die Kommune oder in späteren Jahren auch die Pflegeeinrichtung. Dann geht es darum, ein gesundes Umfeld zu schaffen: gesunde Ernährung und Bewegungsangebote schon für die Kleinsten; betriebliches Gesundheitsmanagement am Arbeitsplatz oder Sturzprävention im Alter. Dafür setzen wir uns ein, arbeiten in Vernetzungsstellen wie „Gute Gesunde Schule“ oder im Netzwerk KMU – Gesundheitskompetenz. Denn genau darum geht es für uns: um das Vermitteln von Gesundheitskompetenz in jeder Lebensphase.

Prävention spielt auch eine Rolle auf der Branchenkonferenz in Rostock… 

Genau. Ganz konkret informieren wir zum Thema Suchtberatung im Zusammenhang mit Alkohol und Cannabis. Gemeinsam mit dem Land Mecklenburg-Vorpommern machen wir auf die Gefahren aufmerksam, die damit einhergehen – und zwar ganz erlebbar. An unserem Stand wird mittels einer KI-Brille der Einfluss auf unsere Sinne simuliert: verzögerte Reaktionen, beeinträchtigte Motorik, ein unsicherer Gang. Wir kooperieren hier eng mit der Landesstelle für Suchtthemen („Sucht ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“). 

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