Aus Innovation wird Versorgungsalltag

In einem Pilotprojekt wurde Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegeheimen ermöglicht, gerätegestützte Telemedizin einzusetzen. Im Interview spricht Christian Bürger, Versorgungsexperte bei der AOK Nordost, über die Motivation der Gesundheitskasse – und warum ihn zwei Balken E-Netz nicht davon abhalten, an die Telemedizin zu glauben.

Herr Bürger, zunächst die Frage: Telemedizin in der Pflege – warum eigentlich? 

Ich fange mal ganz von vorne an: Als Gesundheitskasse kümmern wir uns ja nicht nur direkt um die Versicherten, in dem wir Anträge bearbeiten und Fragen beantworten. Wir schauen uns auch die Versorgungsstrukturen an: Wo gibt es Probleme, wo droht beispielsweise ein Mangel an Arztpraxen? Eine logische Lösung für einen Mangel an Arztpraxen wäre einfach mehr Arztpraxen zu eröffnen. Das können wir als Kasse nicht „lösen“. Deswegen suchen wir nach anderen Möglichkeiten, diese Probleme anzugehen.  Und dann prüfen wir, welche Möglichkeiten wir haben, diese Probleme anzugehen. Als Dreiländerkasse sind wir ja nicht nur in Berlin vor Ort, sondern wir kennen auch die Situation auf dem Land. Und da sehen wir große Herausforderungen. Fachkräfte fehlen, weil die Wege zu den medizinischen Einrichtungen oft weit sind. Der demografische Wandel kommt da nur noch verschärfend dazu: Die Menschen werden immer älter, und im Alter oft immer kränker. Der Bedarf für medizinische Versorgung wächst, das Angebot schwindet. Das ist ein Problem.

Welche Möglichkeiten gibt es denn da für eine Krankenkasse, um das Problem zu lösen? 

Vorneweg: Alleine geht es nicht. Politische Rahmenbedingungen sind entscheidend, zum Beispiel, um das Problem der Unterfinanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung zu lösen. Aber wir gucken natürlich schon, was in unserem Handlungsrahmen liegt – und das gehen wir dann an. Wir kennen als regionale Kasse die Gegebenheiten vor Ort und arbeiten mit vielen Einrichtungen seit langer Zeit zusammen. Diese Partnerschaften machen einiges möglich.

Um konkret zu werden: Pflegeheime haben einen hohen Bedarf an ärztlicher Versorgung. Wir beobachten neue Technologien und verfolgen auch die Entwicklungen in der Telemedizin. Als wir dann auf eine Lösung gestoßen sind, die es ermöglicht, viele hausärztliche Untersuchungen digital und aus der Ferne vorzunehmen, sind wir hellhörig geworden: Kann das eine Möglichkeit sein, die Versorgung – hier im Falle von Pflegheimen – zu verbessern? So kam es zur Idee des Pilotprojekts. 

Christian Bürger, Versorgungsexperte bei der AOK Nordost

Das Pilotprojekt ist nun zu einem Abschluss gekommen. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? 

Sehr viele Positive. Wir wollten wissen, ob gerätegestützte Telemedizin dabei helfen kann, die Versorgung in Pflegeheimen zu sichern und zu verbessern. Mit all den Rückmeldungen der beteiligten Ärztinnen,Ärzte und Pflegeheime können wir nun sagen: Ja, das ist definitiv ein vielversprechender Weg. Die Telemedizin entlastet die Ärztinnen und Ärzte, weil sie viel flexibler ihre Patientinnen und Patienten untersuchen können. Die Pflegeheimbewohnerinnen und –bewohner haben viel davon, wenn bei einer neuen Symptomatik unkompliziert Entwarnung gegeben werden kann, statt für eine Untersuchung ins Krankenhaus zu müssen. Und wir sehen, dass es Potenziale für eine effizientere Versorgung insgesamt gibt – und davon profitieren alle. 

Überspitzt gesagt: Kommt also künftig nur noch digitale Sprechstunde statt persönlicher Kontakt? 

Nein, der persönliche Kontakt wird und muss immer bestehen bleiben. Hier geht es ja nicht darum, etwas zu ersetzen, sondern eine zusätzliche Möglichkeit zu schaffen, die – je nach Fall sinnvoll eingesetzt – entlasten kann. Im Pilotprojekt wurde die gerätegestützte Telemedizin in sieben Pflegeheimen und zehn Arztpraxen in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern eingesetzt. Wir möchten das jetzt mit einem Selektivvertrag im ganzen Nordosten ausbauen – übrigens auch, damit nicht nur die AOK-Versicherten etwas davon haben. 

Was ist eigentlich ein Selektivvertrag? 

Ein Selektivvertrag gibt uns einfach ausgedrückt die Möglichkeit, neue Ideen auszuprobieren, auch wenn sie noch nicht zur sogenannten Regelversorgung gehören, also von allen Gesetzlichen Krankenversicherungen bezahlt werden müssen. Für uns ist das der nächste logische Schritt nach dem Pilotprojekt. Wir wissen, dass gerätegestützte Telemedizin in Pflegeheimen funktionieren kann, jetzt wollen wir sie in der Breite anwenden, um noch mehr Erfahrungen zu sammeln. 

Es gibt noch einen weiteren Aspekt: Mit einem Selektivvertrag können wir diejenigen, die die Telemedizin anbieten, jetzt auch regulär vergüten. Das ist uns total wichtig. Natürlich geht’s darum, mit neuen Methoden die Versorgung zu verbessern. Aber am Ende des Tages müssen die Leute auch fair dafür bezahlt werden. Nach spätestens vier Jahren muss die Wirtschaftlichkeit wissenschaftlich evaluiert werden. Auch da sind wir dran, um neben der Verbesserung der Situation der Patientinnen und Patienten auch Zahlen zu haben, die das belegen. Denn diese Zahlen brauchen wir wiederum, um beispielsweise den Einzug in die Regelversorgung oder eine höhere Vergütung rechtfertigen zu können. 

Welche Eindrücke aus dem Pilotprojekt nehmen Sie in die nächsten Schritte mit? 

Was mich immer wieder erstaunt und ehrlich gesagt frustriert, ist das Problem des stellenweise sehr schwachen Internets. Sie stehen da vor dem Pflegeheim und wollen Telemedizin testen und haben dann zwei Balken E-Netz auf dem Handy. Ich hoffe wirklich, dass Deutschland da vorankommt. 

Unterm Strich sind es aber die positiven Rückmeldungen, die mir viel Rückenwind geben. Bei der Einführung neuer Technologien ist es meist so, dass es unterschiedliche Akzeptanz seitens der Nutzerinnen und Nutzer gibt: Manche sind offener, manche zurückhaltender. Wenn ich aber höre, dass Telemedizin die Zukunft sei, wenn mir die Reaktionen der Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner beschrieben werden, wenn ich mit den Ärztinnen und Ärzten spreche – dann gibt mir das viel Zuversicht. Schließlich haben wir gerade erst angefangen, das Potenzial gerätegestützter Telemedizin zu entdecken.

Das Pilotprojekt zum Einsatz gerätegestützter Telemedizin in Pflegeheimen endete am 31. März 2023. Um gerätegestützte #Telemedizin in Pflegeheimen zu stärken, ermöglichen wir interessierten Ärztinnen und Ärzten bzw. Versorgungszentren und Pflegeheimen die Abrechnung von telemedizinischen Leistungen seit dem 1. August 2023 über Versorgungsverträge nach § 140a SGB V. Die Teilnehmenden sind in der Wahl eines geeigneten technischen Anbieters der gerätegestützten Telemedizin frei. Weitere Informationen finden Sie hier:

Unterlagen für Brandenburg

Unterlagen für Mecklenburg-Vorpommern

 

Leave a reply:

Your email address will not be published.